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Piano Sonata No. 2 "Concord, Mass. 1840-60"
Info
Musikrichtung:
Klassische Moderne Klavier
VÖ: 25.03.2016 ( Capriccio / Naxos / CD / DDD / 2015 / Best. Nr. C5268) Gesamtspielzeit: 56:00 |
VERNEBELT
In den vier Sätzen seiner 2. Klaviersonate (1911-15, mehrfach revidiert bis 1947) komponierte Charles Ives die Porträts von amerikanischen Schriftstellern, die so etwas wie die spirituellen Wurzlen von Ives Welt- und Kunstanschauung verkörpern: Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne, Bronson und Louisa May Alcott und Henry David Thoreau. Ives tat dies weniger im Sinne von biographischen Skizzen als von assoziationsgesättigten Klangräumen, in die er auch fremdes Material, so z. B. das berühmte Ta-Ta-Ta-Taaa-Kopfmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie, einschmolz und in ganz eigene Musik verwandelte.
Ives, der Maverick und Proto-Avantgardist, steht mit seiner Musik zwischen Romantik und Moderne. Seine Concord-Sonata ist dabei ein programmatisches Gipfelwerk, das diese Schwellensituation in der Vereinigung der Gegensätze perfekt verköpert: atonal-harmonisch, konstruktiv-improvisatorisch, gestisch-atmosphärisch, zerklüftet-lyrisch. Dabei räumt Ives dem Interpreten einige Spielräume ein, wenn er weitgehend auf Taktstriche verzichtet und es den Ausführenden überlässt, sich im Motivdschungel zurechzufinden, die teilweise überdichten Texturen zu durchlichten und prägnante Gestalten herauszuarbeiten, die so etwas wie Ankerpunkte im Geschehen darstellen (wie etwa das oben erwähnte Beethoven-Motiv).
Das garantiert bei diesem Stück eine große Bandbreite von mehr oder weniger überzeugenden Zugriffen. Zu den Referenzen gehört sicherlicher die im wahrsten Sinne "klassische" Einspielung von Gilbert Kalish (1976, Nonesuch), die bei insgesamt maßvollen Tempi die motivischen Konturen wie die besonderen Klangwirkungen der Sonate perfekt balanciert.
Nun veröffentlicht der amerikanische Pianist Tzimon Barto eine weitere Deutung, die mit einiger Sicherheit polarisieren dürfte. Der Grundton seiner Interpretation lässt sich schön anhand des letzten Satzes "Thoreau" charakterisieren. Ives imaginiert hier den Walden-See, an dem Thoreau drei Jahre in relativer Abgeschiedenheit lebte, an einem nebeligen Morgen, zusammen mit dem flötspielenden Thoreau (tatsächlich ist gegen Ende des Satzes eine wundersam verwehte Partie für Flöte einkomponiert).
Bei Kalish kann man als Hörender eine Landschaft im Nebel erleben - Klang und Struktur, Motive und Atmosphäre sind in seiner luziden Interpretation gleichberechtigt. Die impressionistische Wirkung geht nicht auf Kosten einer klaren Zeichnung der musikalischen Verläufe. Bei Barto hingegen ist wenig mehr zu erleben als Nebel. Gewiss differenziert er die Musik wie kein anderer Interpret vor ihm. Feinste dynamische Abstufungen stehen ihm ebenso zu Gebote wie eine überaus spontane, freischwingende Agogik. Alles fließt, schillert, schwebt, als es sie gerade erfunden worden. Die in weiter Distanz aufklingende Flöte (Christiane Palmen) bestärkt diesen irrealen Eindruck noch. Aber die besonderen sonoren Qualitäten sind eben nur eine Dimension von Ives Musik.
Kaum anders sieht es in den übrigen Sätzen aus, in denen Barto sein dominantes Spiel mit Klangfarben und Atmosphären nicht weniger konsequent betreibt. Dabei erscheinen "Vorder"- und "Hintergründiges" regelrecht vertauscht: Man hört ein changierendes Farbband, in der die Motive - wie das an Deutlichkeit ja eigentlich kaum zu überbietende Beethoven-Motiv - verschwimmen. Selbst spezielle Effekte wie die mit einer Holzleiste zu realisierenden Cluster im 2. Satz lassen sich kaum noch als außergewönliche harmonische Farbspiele vernehmen, weil bei Barto eben alles ein Farbspiel geworden ist. Dass hier und da bemerkenswerte Details herausgearbeitet werden, hilft nicht viel weiter - es bleibt am Ende der Eindruck, dass es sich weniger um einer Interpretation als eine freie Variation über Ives Sonate handelt.
Fazit: Eine sicherlich interessante und anregende, aber im Ganzen unbefriedigende Interpretation.
Georg Henkel
Trackliste
1 | I. Emerson | 19:48 |
2 | II. Hawthorne | 13:00 |
3 | III. The Alcotts | 8:37 |
4 | IV. Thoreau | 14:35 |
Besetzung
Christiane Palmen: Flöte (IV.)
Jaques Mayencourt: Viola (I.)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |