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Messe de Nostre Dame
Info
Musikrichtung:
Mittelatler Vokal
VÖ: 08.04.2016 (Glossa / Note 1 / CD DDD / 2015 /Best. Nr. GCD P32110) Gesamtspielzeit: 72:50 |
KLANGKÖRPERMUSIK
Musik ist Klang. Das vor allem anderen. Parituren, Instrumente und Technik sind die erforderlichen Hilfsmittel, um den Klang hervorzubringen. So entsteht Musik eigentlich erst im Moment der Aufführung: bei den Interpreten, die sie mit ihren leiblichen oder instrumentalen Köpern hervorbringen und den Zuhörendenden, die sie erleben. Denn der Klang macht den Affekt: verkörperte Gefühle.
Björn Schmelzer, der Leiter des belgischen Ensembles Graindelavoix, bezeichnet die Noten der mittelalterlichen Musik, auf die sich seine Truppe spezialisiert hat, als "Diagramme", in denen die potentiellen klanglichen Energien auf eine rationale und rationelle Weise abgespeichert wurden. Sie bilden das Gerüst, die die "innere Konsitenz" dessen, was da erklingen soll, gewährleistet: eine Art "Geometrie für den Affekt". Die notierten Tonhöhen, Rhythmen und Harmonien markieren sozusagen die Koordinaten oder den Raum, in dem der Klang und die damit verbundenen Klangfarben und Ausdruckskräfte sich manifestieren können.
Vielleicht kann man dass mit einer gotischen Kathedrale vergleichen, die erst durch die in sie hineingebaute Ausstattung, die Ausmalung und die liturgischen Rituale "vollständig" wird. Die Faszination, die gotische Kathedralen auf den heutigen Betrachter ausüben, beruht zunächst auf der Grandiosität der architektonischen Struktur. In ihrem steinsichtigen Purismus ist sie das Ergebnis meist rücksichtsloser Bereinigungen des 19. Jahrhundert. Dass diese Räume geradezu zugebaut und überladen waren mit Altären und Bildern, dass die Wände mit farbigen Ornamenten bemalt waren und dass in ihnen vielfältige Riten in polyphoner Gleichzeitigkeit vollzogen wurden, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Die Ausstattung und die Funktion waren jedoch kein Zusatz, sie ist ein Bestandteil des Baukörpers und wesentlich für seine Wirkung.
Mit ihrer Neudeutung der berühmten Messe de Nostre Dame von Guillaume de Machaut (ca. 1300-1370) versuchen Schmelzer und sein diesmal ausschließlich mit Männerstimmen beseztes Ensemble, die 'Zwischen'- oder 'Freiräume' in Machauts notierem "Diagramm" auf eine vergleichbare Weise auszugestalten. Sie knüpfen damit an die zwanzig Jahre alte Einspielung des Ensemble Organum an, das in dieser Hinsicht als Pionier gelten darf und Maßstäbe gesetzt hat.
Granidelavoix geht noch einmal einen Schritt weiter: Das Ergebnis ist eine rituelle Beschwörung des Klangs aus dem Geist des Notierten und der mündlich überlieferten Traditionen des Musikmachens, die freilich nicht so einfach greifbar sind, sondern aus der Quellenforschung und einer bis heute fortbestehenden Praxis heraus experimentell erschaffen werden müssen. Schmelzer spricht nicht von 'erfinden', sondern von "fabulieren". Wie schon bei den Vorgängerproduktionen ist das Ergebnis eine Maßanfertigung.
Graindelavoix setzt nicht auf die Homogenität perfekt verschmolzener Stimmen, sondern auf den Reiz individueller Stimmfarben und auch mal plärrender obertöniger Mixturen, auf spontane improvisierte Verzierungen und mikrotonale Tonverschleifungen, die an orientalische Gesangstraditionen erinnern. Mit einer oft rauen und kehligen Tongebung wird Machauts Diagramm mit einer mitunter durch Mark und Bein gehenden Inbrunst ekstatisch aufgeladen. Hier tönen, vibrieren und resonieren (Männer)Körper und keine neogotischen Engelwesen, wie man sie sonst meist bei diesem Repertoire hören kann (dass das Ergebnis einer solch reinen Darbietung wunderschön klingt und auf seine Weise ebenso bewegend ist, sei damit nicht bestritten!).
Bei Graindelavoix ist alles physischer, haptischer, stofflicher: Der Klang ist das Material, aus dem diese Musik gebaut ist! Das Ganze wirkt dabei ebenso spekulativ wie authentisch, so gegenwärtig wie archaisch - so als ob Giancinto Scelsi, ein Klangkomponist des 20. Jahrhunderts, einmal im gotischen Stil improvisiert hätte.
Stärker als bei den Vorgängerproduktionen fällt aber auch die Spannung zwischen dem Notierten und "Fabulierten" (Schmezler) ins Ohr. Machauts "Diagramm" ist perfekt durchgeformt. Jeder Zusatz wirkt sich auf die Gesamtbalance aus, die dann wieder neu austariert werden muss. Die klare Struktur (Architektur) gerät hier und da ins Wanken oder löst sich mitunter im Spiel der Ornamente und Farben ins Ungefähre auf (z. B. bei einigen Passagen des "Kyrie").
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die beiden zusätzlich aufgenommenen mehrtextigen polyphonen Motetten Machauts toleranter auf den Ansatz von Graindelavoix reagieren als die Messe: Die Stimmführung in den Motetten ist per se individueller. Ähnlich verhält es sich mit den mehrstimmigen Ausgestaltungen der einstimmigen gregorianischen Teile, die noch einmal besonders beeindrucken, auch wegen der angenehm räumlichen Aufnahmetechnik, die die Stimmen sehr plastisch und vollmundig abbildet.
Wer zum Vergleich einmal eine notengtreuere Version der Messe hören möchte, greife zur Version des Clemencic Consort. Hier sorgen eine Fülle weiterer 'volkstümlicher' sakraler Stücke und der Einsatz von diversen Instrumenten für eine eigene Form von 'Authentizität' - das Album wirkt freilich nach der Einspielung von Graindelavoix fast schon wie ein nachgestellter mittelalterlicher Jahrmarkt, bei der die streng gefügte Kunstmusik Machauts wie ein erratischer Fremdkörper aus dem bunten frommen Treiben herausragt ... doch wer weiß, wer weiß ...!
Georg Henkel
Besetzung
Björn Schmelzer: Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |