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Reviews

Berlioz, H. (Gardiner)

Les Troyens


Info

Musikrichtung: Oper

VÖ: 01.08.2004

Opus Arte / Naxos
3 DVD (AD live 2003) / Best. Nr. OA 0900 D


Gesamtspielzeit: 300:12

IMPOSANT UND BEWEGEND

Obwohl Les Troyens, die wohl bedeutendste Oper von Hector Berlioz, durch das Engagement von Colin Davis erst im vergangenen Jahr zum zweiten Mal vollständig und musikalisch sehr befriedigend auf Platte gebannt worden ist (LSO Live), kann man die Bedeutung dieser aktuellen, ebenfalls exzellenten und sorgfältig edierten DVD-Produktion für eine größere Bekanntheit des schwierigen Werkes kaum hoch genug einschätzen.

Als Mitschnitt aus dem Théâtre du Châtelet wird die Oper nämlich nicht nur zur musikalischen, sondern auch zu einer theatralischen Entdeckung. Dirigent John Eliot Gardiner und Regisseur Yannis Kokkos tun alles, um der kühnen, formatsprengenden Vision Berlioz’ in allen Dimensionen gerecht zu werden: Gardiner, indem er das Werk durch sein Orchestre Révolutionnaire et Romantique auf historischen Instrumenten frei von romantisierender Firnis musizieren lässt und die Sänger zu einer wunderbar klaren, sanglich-expressiven Deklamation anhält; Kokkos, indem er für die episch breite Vorlage maßstabgerechte Bilder jenseits eines hollywoodesken Historismus’ findet.
Eine überzeugende Inszenierung ist trotz des zeitlos-populären Themas wahrlich keine geringe Kunst. 1858 vollendet, ist Les Troyens nämlich das letzte Werk in der Tradition der von Lully und Quinault erfundenen, von Rameau vollendeten und schließlich von Gluck noch einmal renovierten tragedie lyrique, der französischen Variante der Barockoper. Das Rezitativ dominiert hier über die Arie, zum gesungenen Drama kommen weiträumige Tanz- und Choreinlagen, zur dramatischen Aktion tritt das große, stimmungsvolle Tableau: Aufmärsche, Totenfeiern, Beschwörungen, Erscheinungen. Da wir uns in der Welt des griechischen Mythos bewegen, hat das Übersinnliche seinen ganz selbstverständlichen Platz im Geschehen.
Der bekennende Gluckist Berlioz hat das fünfaktige Werk selbst aber niemals vollständig hören können. Man zwang ihn zu starken Kürzungen, weil es als zu lang (über vier Stunden!) und zu schwierig galt. Bis 1890 gab es keine Gesamtaufführung, seitdem hat man die Akte I und II, die den Untergang Trojas behandeln, von den Akten III-V, in denen die Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas im Mittelpunkt steht, nicht selten abgetrennt und aus einer Oper zwei gemacht.
Der Apparat ist in der Tat riesig. Gefordert sind unter anderem rund zwanzig Solisten, ein großer Chor, Fern- und Bühnenmusik. Berlioz verlangt dem Orchester ein Höchstmaß an Virtuosität und ungewöhnliche Klangfarben ab. Wenn die raffinierte Instrumentalbehandlung und reiche Harmonik dann noch bei einem Solisten-Oktett mit eindrucksvoll in Szene gesetztem Doppelchor zum Einsatz kommen (wie im Finale vom I. Akt), dann kann man sich der monumentalen, suggestiven Wirkung wahrlich nicht mehr entziehen. Allerdings: Verglichen mit der Wucht der ersten beiden Akte wirkt die bukolische und erotische Idylle der Akte III und IV fast schon wieder blass und langatmig, obwohl Berlioz hier ebenfalls ein Füllhorn an Einfällen ausschüttet. Eine großartige sinfonische Jadg- und Sturmmusik eröffnet den IV. Akt, das Liebes-Divertissement am Ende leuchtet in den zartesten Klang- und Vokalfarben und das sinnliche Duett von Dido und Aeneas geht einem noch nach, wenn die Oper schon lange geendet hat.

Es sind solche Momente, die einen die Längen des Werkes vergessen lassen. Vor allem, wenn dann noch so fabelhaft gespielt, gesungen und inszeniert wird wie in diesem Fall. Kokkos bietet unter anderem einen gewaltigen, schräggestellten Spiegel als Prospekt auf, der den Bühnenraum unwirklich nach hinten und unten vertieft und das komplexe Geschehen für die Zuschauer überschaubar macht. Bewegliche Treppenanlagen und monumentale Wände erzeugen klar strukturierte Räume, die die Antike anklingen lassen, dabei aber ebenso wenig im dekorativen Zitat aufgehen wie die stilisiert archaisierende Kleidung der Protagonisten oder ihre modernen Schusswaffen. Mit dieser Ästhetik zwischen Reduktion und poetischer Opulenz bekommt der Regisseur auch die malerischen oder festlichen Divertissements des III. Aktes in den Griff. Eine dynamische Kameraführung hat die szenische Spannung adäquat eingefangen.

Nicht weniger souverän und überlegt ist Gardiners Dirigat: Seine Musiker beherrschen ihre „Original“-Instrumente perfekt. Gardiners detailfreundlicherer, strukturbewusster Ansatz erweckt die Partitur denn auch in all ihren Melodien, Rhythmen, Farben und Effekten zum Leben; selbst die statischen Momente sind da von innerer Kraft erfüllt. Die Verschlankung aus historisch-informierter Perspektive bedeutet keinesfalls die Auszehrung der Substanz: Der Klang ist stets kraftvoll. Aber er trägt die Sänger/innen, statt sie in die Enge zu treiben. Da bleiben Ressourcen für die Gestaltung, die insgesamt rhetorischer ist, als bei Davis und gerade dadurch bewegender, energiegeladener.
Die verzweifelte und leidenschaftliche Kassandra von Anna Catarina Antonacci wird man so schnell nicht wieder vergessen. Dido wird durch die differenzierte Gestaltung Susan Grahams in ihrer komplexen Persönlichkeit greifbar, wenngleich der fast schon veristische Furor, mit dem die Sängerin ihre Figur im letzten Akt ausstattet, in der eher lyrischen Disposition ihrer Stimme seine natürlichen Grenzen hat. Gregory Kunde vermeidet mit seinem baritonal grundierten Tenor wohltuend die Klischees seines Fachs und präsentiert einen unsentimental gezeichneten (Anti)Helden, der im klassischen Zwiespalt von Ruhm und Liebe gefangen ist. In den Nebenrollen glänzen (unter vielen) der Chorébe von Ludovic Tézier und der Iopas von Mark Padmore.

Ein einstündiges, vielstimmiges Feature von Reiner. E. Moritz rundet die opulente Produktion angemessen ab.



Georg Henkel

Besetzung

Susan Graham (Didon)
Anna Caterina Antonacci (Cassandre/Clio)
Renata Pokupi&#263; (Anna)
Gregory Kunde (Énée)
Ludovic Tézier (Chorèbe)
Nicolas Testé (Panthée)
Laurent Naouri (Narbal/Le Grand Prêtre)
Mark Padmore (Iopas)
René Schirrer (Priam/Mercure)

Monteverdi Choir
Choer du Théatre du Châtelet

Orchestre Révolutionnaire et Romantique
Leitung: John Eliot Gardiner

Regie: Yannis Kokkos
Licht: Patrice Trottier
Choreographie: Richild Springer
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