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Oleg Kagan plays Gubaidulina (Rejoice! – Offertorium)
Info
Musikrichtung:
Violinkonzert
VÖ: 01.09.2004 Live Classics / Note 1 CD ADD/DDD (AD 1982/1989) / Best. Nr. LC 05954 Gesamtspielzeit: 59:37 |
DIE ESSENZ DES TONES
Dass das überragende Talent des russischen Geigers Oleg Kagan im Westen erst relativ spät entdeckt wurde, hat kulturpolitische und biographische Gründe: Als Sowjetbürger unterlag der Interpret Beschränkungen, was die Konzerttätigkeit jenseits des „Eisernen Vorhangs“ anging. Als diese Grenze im Zuge der sowjetischen Reformpolitk durchlässiger wurde, blieb Kagan nur noch wenig Zeit: 1990 starb er im Alter von nur 44 Jahren in München. Bereits von seiner schweren Krankheit gezeichnet, gab er seine letzten Konzerte im Westen. Der größte Teil seines musikalischen Erbes besteht daher aus Konzertmitschnitten, die seit geraumer Zeit exklusiv beim Label Live Classics erscheinen, zuletzt eine Aufnahme mit zwei Werken der russisch-tartarischen Komponistin Sofia Gubaidulina (*1931).
Auch Gubaidulina hatte wegen ihrer als „formalistisch“ verpönten Musik lange Zeit große Schwierigkeiten in ihrer Heimat; die repressive Kulturpolitik der UdSSR verhinderte eine größere Bekanntheit im Westen. Inzwischen gilt sie als eine der originellsten und vernehmlichsten Stimmen der Neuen Musik nicht nur in Russland. Mit großer Selbstverständlichkeit verschmilzt sie die Idiome der „klassischen“ Avantgarde mit dem musikalischen Hintergrund ihrer Heimat zu einer sehr individuellen, phantasievollen Klangsprache: expressiv und sinnlich, dabei häufig religiös inspiriert, mal virtuos verspielt, mal von ritueller Strenge.
REJOICE!
Die hier aufgenommen Stücke machen da keine Ausnahme. In beiden Fälle ist es Oleg Kagan, der sie mit seinem ungemein körperlichen Spiel beseelt. Sein Ton ist glühend und kraftvoll, dabei von fast überirdischer Reinheit - kaum einmal hört man den Ansatz, praktisch keine Unregelmäßigkeit trübt den Klang. Das ist freilich weit entfernt von steriler Perfektion. Vor allem das erste Stück, ein kammermusikalisches Duo für Violine und Cello (gespielt von Kagans Frau Natalia Gutman), wird mit kaum zu übertreffenden Geschlossenheit und Intensität dargeboten. Selbst jene Hörer/innen, die Neuer Musik ablehnend gegenüberstehen, werden sich der bewegenden Kraft von Kagans und Gutmans Spiel nicht entziehen können.
Dabei besticht schon die Musik Gubaidulinas bei aller überbordenden Klangphantasie durch ihre Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft. In Rejoice! entfalten die Spieler über den Basisnoten mit irrealen Flageoletts, geisterhaften Flautandi und wirbelnden Pizzicati ein Kaleidoskop von Obertonharmonien, die für jene spirituelle „Freude“ stehen, von denen die aus religiösen Kontexten entnommenen Titel der einzelnen Sätze sprechen.
Auch dank der überragenden Klangqualität ist dieser Mitschnitt ein diskographischer Höhepunkt.
OFFERTORIUM
Ihrem Violinkonzert „Offertorium“ legte die Komponistin das berühmte Königliche Thema aus J. S. Bachs „Musikalischem Opfer“ zugrunde, das gleichsam als verdoppeltes Zitat, zu Beginn in der Orchestrierung von Anton Webern erklingt, um dann im Laufe des rund 35minütigen Stücks die wundersamsten Verwandlungen zu durchlaufen und sich dabei gleichsam Note um Note zu „opfern“. Spätestens mit der grandiosen Einspielung der revidierten Fassung durch den Widmungsträger Gidon Kremer und das Boston Symphony Orchestra 1988 (erschienen bei der DG) hat diese Komposition ihren Weg auch in die „normalen“ Konzertprogramme gefunden.
Das besondere an der vorliegenden Aufnahme ist nun, dass es sich um den Mitschnitt der Uraufführung 1982 handelt. Überwältigt Kremer durch seinen ungemein differenzierten und bis in die letzte Verästelung ausdrucksvollen Vortrag, so ist es bei Kagan wiederum schon die bloße physische Energie seines herrlichen Tons und die geschmeidige Virtuosität.
Weniger gelingt dies dem Orchester des Kulturministeriums der UdSSR unter der Leitung von Gennadij Rozhdestvensky. Vom technischen Standpunkt aus bewältigen die Musiker ihren Part zwar, die Musik liegt ihnen aber hörbar sperriger in den Händen als ihren Bostoner Kollegen. Was sich dort unter dem Dirigat von Charles Dutoit perfekt ausbalanciert zu einem großen Bogen fügt, zerfällt den russischen Musikern doch zu sehr in Einzelereignisse. Dazu kommt eine Liveakustik, die trotz der schönen Tiefenstaffelung einzelne Instrumentengruppen unangemessen bevorzugt.
Georg Henkel
Trackliste
06 Offertorium
Besetzung
Natalia Gutmann, Cello
Orchester des Kulturministeriums der UdSSR
Ltg. Gennadij Rozhdestvensky
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |