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POLE für 2
Info
Musikrichtung:
Neue Musik Vokal
VÖ: 01.02.2013 (Stockhausenverlag / Stockhausenverlag / CD / DDD / 2012 / Best. Nr. CD 103) Gesamtspielzeit: 74:30 |
YIN UND YANG IN DER OPER
Was Natascha Nikeprelevic und Michael Vetter mit Karlheinz Stockhausens experimenteller kybernetischer Komposition POLE für 2 anstellen, das verdient auf jeden Fall das Prädikat „besonders“. Den Rest möge der Hörer nach eigenem Empfinden ergänzen: kunstvoll, bizarr, unterhaltsam, surreal, schräg, dramatisch, virtuos, verspielt, versponnen, verzückt, sinnlich, amüsant ... wahrscheinlich alles zugleich. In jedem Fall: musikalisch.
Das Stück entstand 1970 in Bali und wurde erstmals kurz darauf bei der Weltausstellung EXPO in Osaka in verschiedenen, meist instrumentalen Versionen aufgeführt. Auch eine schon länger beim Stockhausen-Verlag erhältliche Aufnahme (CD 15) bietet das Werk lediglich in einer instrumentalen Teileinspielung. Dass von POLE nur einzelne Abschnitte ausgeführt werden, ist allerdings eine Möglichkeit, die vom Komponisten ausdrücklich eingeräumt wurde.
Um zu ermessen, welche Möglichkeiten wirklich in dem Stück stecken, dafür bedurfte es der vorliegenden Gesamtaufführung, die mit den überaus wandlungsfähigen Stimmen der beiden Vokalakrobaten Nikeprelevic und Vetter zudem die perfekten Interpreten aufbietet, um das dramatische Potential voll zu entfalten.
Die Partitur umfasst lediglich zwei Seiten und erinnert an einen Schaltplan: Diverse Zeichen, vor allem + und –, zeigen an, dass und wie ein musikalisches Material verarbeitet werden soll. Dabei ist es den Interpreten allerdings relativ freigestellt, ob sie z. B. dessen rhythmische Struktur, Dynamik, Häufigkeit oder Lage verändern. Andere Zeichen regeln die Interaktion der Ausführenden, z. B. indem sie anzeigen, ob ein Spieler einen anderen ganz oder teilweise imitieren soll, ob beide nahezu parallel oder polyphon agieren sollen. Wieder andere Zeichen setzen Zäsuren, bei denen die Entwicklung noch einmal über das erreichte Niveau hinaus getrieben werden soll: im Hinblick auf die Intensität, die Dichte oder die verwendeten Klänge. Was transformiert wird, hängt vom gewählten Ausgangsmaterial ab. In diesem Fall handelt es sich um Signale aus zwei Kurzwellenempfängern: Musik- und Wortfragmente, Pop, Schlager, Werbung, Infofunk ... Dieses Rohmaterial wird von Vetter und Nikeprelevic aufgegriffen und durch die von ihnen vorbereitete – d. h. in den Details der Veränderung festgelegten – Partitur „geschickt“. Was zunächst sehr technisch klingt, ermöglicht ein fantasievolles musikalisches Spiel, bei dem größte Kontrolle und völlige Freiheit gleichermaßen gefordert sind.
Es handele sich bei POLE um die erste und einzige strukturelle Oper, schreibt Natascha Nikeprelevic in ihrem Kommentar. Das Stück eröffnet einen spannungsvollen Dialog, bei dem die spontanen Radiosignale kunstvoll und zugleich hintersinnig transformiert und schließlich transzendiert werden. Da die Partitur mit den Entscheidungen der Interpreten im Beiheft abgedruckt ist, kann man den Prozess ziemlich gut mitverfolgen. Verschiedenste Vokaltechniken kommen zum Einsatz, keine Möglichkeit zur Lautäußerung wird ausgespart – ein spätes Erbe dadaistischer Vokalverrückungen, die hier in der Tat zu einer Oper ohne Sujet gerinnen. Für Michael Vetter steht die nichts aussparende existenzielle Begegnung der beiden Sänger im Zentrum. Beide müssen sich ganz und gar auf den Prozess einlassen und dürfen auch vor den extremsten, polar entgegengesetzten Äußerungen nicht zurückschrecken. Wirklich ein Spiel von Yin und Yang. Die beiden Pole – „Er“ und „Sie“ – begegnen sich in einem grundsätzlich unbegrenzten Klangkosmos, in denen alle Äußerungen immer auch mehr und anderes sind, als es zunächst den Anschein hat. Mysteriöses Geflüster, launisches Kichern, aggressives Fauchen und geziertes Schreien, derbes Schnarchen und Röhren, melodiöses Sprechen und virtuoses Gegurgel, kunstvoll verschnörkeltes Singen, reich artikuliertes Atmen oder geräuschhaftes Pfeifen stehen wie vokale Graffitis im Raum. Sie werden zum einem völlig abstrakt weiterverarbeitet, transportieren dabei zum anderen aber immer noch viel von ihrer ursprünglichen expressiven Energie, ohne dass es ein konkrete Handlung oder einen psychologischen Anlass gäbe. Sie stellen zunächst einfach sich selbst dar, um dann Schritt für Schritt in etwas anderes – mitunter das völlige Gegenteil – verwandelt zu werden. Die Klangregie kontrapunktiert das Geschehen durch eine mehr oder weniger weite Verschiebung der Sängerpositionen in der Horizontalen und eine unterschiedlich große Verräumlichung. Auch dieser Prozess ist in der Partitur eingezeichnet; er verstärkt den opernhaften Eindruck des Geschehens noch.
POLE ist nicht nur hochvirtuos, sondern auch poetisch und nicht zuletzt ausgesprochen unterhaltsam. Es bedarf dazu allerdings Interpreten, die die Balance zwischen streng gefügten Musizieranweisungen und völliger Offenheit so selbstverständlich meistern wie Michael Vetter und Natascha Nikeprelevic. Für Vetter zählt POLE neben den verwandten Stockhausenwerken KURZWELLEN, SPIRAL und EXPO zu den Schlüsselwerken des 20. Jahrhundert – und wenn man ihn hier mit seiner Partnerin hört, kann man auch verstehen, wieso: Es gibt nur wenige Stücke, die ihre Interpreten als Mitgestalter, ja Mitschöpfer so ernst nehmen und über ihre Grenzen hinaus fordern wie diese.
Wer sich für derlei Grenzüberschreitungen begeistern kann, dem sei auch noch Michael Vetters kongeniale Gesamteinspielung von SPIRAL - als CD Nr. 46 ebenfalls beim Stockhausen-Verlag erschienen - an die offenen Ohren gelegt.
Georg Henkel
Besetzung
Michael Vetter: Stimme, Kurzwellenempfänger, Mundharmonika, Blockflöte
Kathinka Pasveer: Klangregie
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |