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Le Jugement Dernier u. a. Vokalwerke
Info
Musikrichtung:
Oratorium
VÖ: 01.07.2004 Pan Classic / Note 1 CD DDD (AD 2003) / Best. Nr. 10 175 Gesamtspielzeit: 67:34 |
ZEITLOSE MUSIKALISCHE EXERZITIEN
BAROCKE MYSTIK
Wenn auf dieser Aufnahme mit geistlichen Vokalwerken von Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) die beiden Sängerinnen Catherine Greullet und Raphaële Kennedy ihre Stimmen auf die Worte Transfige dulcissime Jesu (Durchbohre mich, süßester Jesus) in lichteste Sopranhöhen emporschweben und wieder herabschwingen lassen, ist es sogleich um den Hörer geschehen: Die emphatische Anrufung des „süßesten Jesus“ im Gebet des hl. Bonaventura mag heute befremdlich erscheinen. Doch transportiert Charpentiers Vertonung die Inbrunst im Text des franziskanischen Mystikers mit derart ergreifenden musikalischen Mitteln, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Und selbst wenn man dem Ausdrucksgehalt der Musik gegenüber reserviert bleibt, kann man sich doch am Raffinement der delikat ausbalancierten Stimmen und der Subtilität der reich abschattierten Harmonik erfreuen.
HARMONISCHE EXTRAVAGANZ, SCHLANK PRÄSENTIERT
Dies um so mehr, weil die Interpretation des französischen Ensembles européen William Byrd unter der inspirierten Leitung von Graham O’Reilly ein seltenes Maß an Vollkommenheit erreicht: Die Homogenität im mehrstimmigen Satz ist ebenso bewundernswert wie die feinsinnige Expressivität, mit der dieselben Sänger/innen ihre Soloparts gestalten. O’Reilly hat sich nämlich (musikhistorisch wohlbegründet) für eine einstimmige Besetzung entschieden, bei der die Ausführenden sowohl die Soli als auch den Chorpart übernehmen. Selbst ein für drei Chöre gesetztes Meisterwerk wie das Salve Regina kommt da mit 11 Sänger/innen und drei Continuo-Instrumenten aus.
So kann man die intime Satzkunst Charpentiers in allen Details genießen, zumal von den Ausführenden Klangfarben und harmonische Wechsel intensiv ausgekostet werden. Hier ist vor allem bei den Worten „in hac lacrymarum valle“ die Wirkung frappant: Die drei Stimmen des III. Chores hat der Komponist mit sehr gesuchten harmonischen Wendungen bedacht, die wie ein Echo auf die chromatischen Experimente des späten 16. Jahrhunderts daherkommen. Dass O’Reilly diesen Chor räumlich etwas entfernt platziert hat, steigert den Effekt noch. Angesichts solch gewagter Töne will man gerne glauben, dass der Komponist zeitlebens mehr von den Kennern der Kunst als den Liebhabern der Konvention geschätzt wurde.
GÖTTLICHE PSYCHOLOGIE
Zutiefst bewegend ist auch der Schlußchor der Histoire sacrée Le Reniement de St Pierre: Die Reuetränen des 1. Jüngers, der seinen Herrn verleugnet hat, fließen hier als fünfstimmiger Klagegesang, dessen Intensität für den sonst eher kontrollierten Ausdruck französischer Barockmusik außergewöhnlich ist. Diese Affektbrücke sollte den damaligen Hörer unmittelbar in das Geschehen um Verrat und Buße hineinziehen und zur Identifikation mit dem zerknirschten Petrus animieren. Getreu den Maximen des Ignatius von Loyola komponierte Charpentier in den Diensten der Pariser Jesuiten seine Musik nämlich als „musikalische Exerzitien“, die Leib, Seele und Gemüt der Gläubigen ganz auf Gott ausrichten sollten.
Doch geraten Charpentiers Kompositionen niemals nur zur platten Illustration einer mahnenden oder moralisierenden Botschaft, wie sie z. B. eindrucksvoll im Oratorium über das Jüngste Gericht, Extremum die judicium, anklingt. (Zu diesem Stück sei angemerkt, dass Charpentier dort einen „Bruit de trompettes“ vorgesehen hat, der hier von zwei Violinen gespielt wird. In zwei modernen Werkverzeichnissen finden sich widersprüchliche Angaben zur Instrumentation: die Trompeten sind in jedem Fall angegeben, ansonsten ist einmal die Rede von zwei weiteren, nicht genauer bezeichneten Instrumenten in hoher Lage, im anderen Katalog sind zwei Violinen vermerkt. Mag sein, das Charpentier diesen „Bruit“ gar nicht durch Trompeten ausgeführt haben wollte, sondern lediglich durch Violinen markiert. Im Rahmen von O’Reillys „intimen“ Gesamtkonzept ist dies auf jeden Fall eine adäquate Lösung.)
So berührt und fasziniert diese Musik heute immer noch, anders vielleicht als vor 300 Jahren, aber - Dank profilierter Interpretationen wie der vorliegenden - nicht weniger intensiv.
Georg Henkel
Trackliste
03-10 Extremum die judicium, H.401 19:51
11-13 Le Reniement des St Pierre, H.424 10:40
14 Salve Regina, H.24 07:07
15-16 Litanie, H.86 07:34
17-19 Motet pour les Trépassés, H.311 12:14
Besetzung
Ltg. Graham O’Reilly
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |