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Matthäus-Passion (gekürzt) u. Instrumentalwerke
Info
Musikrichtung:
Oratorium
VÖ: 29.03.04 Naxos Historical / Naxos 3 CD mono ADD (AD Passion live 1939 / Instrumentalwerke 1929-1938) / Best. Nr. 8.110880-82 Gesamtspielzeit: 207:26 |
BACH-DOKUMENTE
GEKÜRZTE PASSION - KOMPLETT!
Dies ist die erste vollständige CD-Veröffentlichung einer legendären Aufführung von Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ am Palmsonntag 1939 im Amsterdamer Concertgebouw unter der Leitung von Willem Mengelberg (1871-1951). (Die bisher bei Philips erhältliche Version hatte man zusammengestrichen, um das Werk auf zwei CDs unterbringen zu können.)
Komplett im Sinne des Bachschen Originals ist diese Einspielung trotzdem nicht. Mengelberg selbst hatte bereits einige wenige Nummern ausgelassen. Diese Kürzungen sind wie die Erweiterung der Intrumentation, die Eingriffe in den Notentext oder die subjektive Agogik und Dynamik im Kontext einer romantischen Aufführungspraxis zu verstehen, die den Interpretationsbegriff weiter fasste als heute.
Mengelberg nähert die filigrane barocke Musiksprache Bachs auf sehr eigenwillige Weise einem gravitätischen und pathetischen, an Wagner und Bruckner orientierten Klangideal an, das freilich in seiner Opulenz überwältigend sein kann.
Dieser breite, romantische Bach-Klang lebt heute vor allem in den Einspielungen Karl Richters (+1981) oder Enoch zu Guttenbergs fort und hat Generationen von Hörern geprägt und tief bewegt. Viele davon mögen sich mit der Klang-Diät der historischen Aufführungspraxis bis heute nicht abfinden. (Inzwischen ist man da sogar bei der allerdings umstrittenen Formel „ein Sänger/Spieler pro Stimme“ angekommen. Wie stark eine solche Interpretation polarisiert, konnte man z. B. 2003 im Diskussionsforum der DG nach der Veröffentlichung von Paul McCreeshs solistischer Fassung erleben. Hier werden offensichtlich nicht nur musikalische „Glaubensfragen“ berührt.)
Immerhin gibt es bei Mengelberg schon, „historisch korrekt“, ein Cembalo bei den Rezitativen zu hören (Bach hat diese wohl in allen Fällen auf der 1. Chororgel begleitet).
SPÄTROMANTISCHE PASSIONS-STIMMUNG
Gleich der Eingangschor setzt mit rund 11(!) Minuten Dauer ein Vorzeichen vor das ganze Werk: Aus der Tiefe baut sich hier ein massives, endlos strömendes Klangband auf, das nicht zuerst durch die komplexe Mehrstimmigkeit in der Horizontalen gegliedert wird, sondern durch dynamische Wellenbewegungen und Tempo-Rückungen in der Vertikalen. Mengelberg staucht und dehnt sozusagen den Tonsatz, er arbeitet mit dem expressiven An- und Abschwellen des Klangvolumens, lässt auch die Violinen verhalten schluchzen und hält das alles durch ein unendliches Legato zusammen.
So drückt der Chor hier nur noch eine einzige Empfindung aus: Selbstanklage und Trauer. Von der „glücklichen Schuld“, die Bach durch sein tänzerisches, bewegtes Taktmaß anklingen lässt, ist da nichts zu hören. An die Stelle kleinteiliger, prägnanter barocker Rhetorik ist damit ein ebenso monumentales wie statisches musikalisches Stimmungsbild getreten. Wenn man so will: Die Musik ist weniger wort- als gefühlsgebunden.
Bewundernswert bei den gedehnten Tempi ist die Kondition der Ausführenden, die die gewaltigen Bögen offenbar ohne Atemnot realisieren. Kondition und Konzentration benötigt man auch als moderner Hörer, da Mengelberg die Wortverständlichkeit durch das überdehnte Tempo an den Rand der Auflösung treibt: Der Text und seine Bedeutung geht gleichsam im Strom der Töne auf.
Diese erhabene Trauerstimmung prägt nun große Teile des Werkes. Die eigentlich kontrastierenden Affekte der Arien erscheinen bei Mengelberg nur als immer neue Entfaltungen des eröffnenden Klagegesangs. In den besten Fällen wissen die Solisten ihren Part aber auch für heutige Ohren bewegend umzusetzen („Aus Liebe will mein Heiland sterben ...“).
Dennoch: Eine gewisse Stagnation muss man schon in Kauf nehmen. Denn die Rezitative, allen voran die Jesusworte, klingen vor allem erhaben und werden weniger deklamatorisch als arios aufgefasst. Dabei behindert die weihevolle Langsamkeit auch hier schon mal das Verständnis. Gleiches gilt für die entrückt formulierten, a cappella dargebotenen Choräle, die ebenfalls zur Stimmungsmusik werden. Vor allem hier und bei den Turbae müssen digitalklangverwöhnte Ohren vom arg engen Chorklang abstrahieren.
Andererseits: Wenn die Dramatik des Geschehens es erfordert, kann Mengelberg auch sehr zupackend sein und übertrifft mitunter noch die heute üblichen Tempi (z. B. bei der Verhaftung Jesu und dem anschließenden Fluchchor). Auch läuft der Evangelist Karl Erb bei solchen Gelegenheiten zur Hochform auf: Gellender und schärfer habe ich die Worte „Und siehe da, der Vorhang des Temples zeriss ...“ noch nicht gehört. Das etwas schnarrende Timbre kennt man allerdings auch aus alten Wochenschauen.
INSTRUMENTALE ZUGABEN
Ergänzt wird dieses faszinierende Dokument durch einige Instrumentalwerke, die sich ebenfalls durch eine zwar sehr „mengelbergsche“, aber in sich konsistente Interpretation auszeichnen: romantisches Pathos hier, dramatisches Feuer dort. Z. B. beim Eröffnungssatz der 2. Orchestersuite, deren punktierter Beginn erst bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht wird, um dann durch ein flottes Fugato abgelöst zu werden, bis Mengelberg für die Reprise des Anfangs eine erneute orchestrale Vollbremsung einleitet. Beim Konzert für 2. Violinen entsprechen die virtuosen Tempi zwar fast denen, die der Barockgeiger Andrew Manze vorlegt (harmonia mundi). Die Attacke auf den Ton ist aber wieder ganz romantisch aufgefasst. Absolute und empfundene Zeit treten dadurch deutlich auseinander: Die Musik erscheint langsamer gespielt als bei Manze.
Das alles wurde von Mark Obert-Thorn sehr gut restauriert und ist für all jene ein Gewinn, die sich für die Aufführungspraxis von Bachs Musik interessieren.
Da es sich um ein einmaliges historisches Dokument vor allem mit Sammlerwert handelt:
Georg Henkel
Trackliste
CD III
Suite Nr. 2, BWV 1067 21:23
Air aus der Suite Nr. 3, BWV 1068 (arr. Mahler)03:38
Air aus der Suite Nr. 3, BWV 1068 (arr. Telico) 04:23
Konzert für 2 Violinen D-Moll, BWV 1010 14:45
Besetzung
Ilona Durigo, Alt
Karl Erb - Louis van Tulder, Tenor
Willem Ravelli – Herman Schey, Bass
Louis Zimmerman – Ferdinand Helman, Violine
Amsterdam Toonkunst Chor
„Zanglust“ Knabenchor
Concertgebouw Orchester
Philharmonic-Symphony Orchester New York
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06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
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