Reviews
Ouvertures avec tous les Airs (Phaëton, Atys, Armide)
Info
Musikrichtung:
Barock
VÖ: 6.2.2012 (Tudor / Naxos / CD / DDD / 2011 / Best. Nr. 7185) Gesamtspielzeit: 62:37 Internet: Capriccio Barockorchester |
MARKTGÄNGIG
Keine Frage: Wer auf sich hielt und musikalischen Geschmack beweisen wollte, der musste im Mitteleuropa des ausgehenden 17. Jahrhunderts Lully spielen. Doch wie der Mode folgen, wenn die Orchesterbesetzung nicht jener in Frankreich üblichen Aufteilung (fünf Streichergruppen) entsprach und außerdem Geld und Personal fehlten, um Lullys musikalische Tragödien in Szene zu setzen? Findige Verleger sahen hier ihre Marktlücke und vertrieben in ganz Europa Auszüge der Bühnenmusiken und schufen so Begriff und Typus der (Orchester-)Ouvertüre, die sich bald zu einer eigenständigen Gattung weiterentwicklen sollte. Dabei nahmen sie, allen voran der Amsterdamer Verleger Estienne Roger, geschickte Umarbeitungen vor, um die Stücke der in Mitteleuropa üblichen Orchesterbesetzung anzupassen: die Stimmenzahl wurde von fünf auf vier reduziert, die Sätze wurden formal auf die musikalischen Gewohnheiten der Abnehmer in Halle, Brüssel, Hamburg, Berlin oder London zugeschnitten.
Das Baseler Capriccio Barockorchester zeigt mit seiner Einspielung dieser Bearbeitungen, wie selbige die Lücken schließen zwischen französischer Opernmusik und der Orchesterouvertüre á la Muffat, Kusser, Telemann oder Bach. Dass das Bindeglied also zunächst einmal nicht von Komponisten geschaffen wurde, sondern aus kaufmännischer Notwendigkeit, ist mehr als nur eine Fußnote der Musikgeschichte. Die Schweizer Musiker haben die drei Auszüge zudem in unterschiedlicher Besetzungsstärke eingespielt, genau das also, was die Bearbeitungen auch ermöglichen sollte. In voller Besetzung mit acht Bläsern ertönt die Phaëton-Ouvertüre, in solistischer Streicherbesetzung und somit kammermusikalisch hingegen jene zur Oper Atys und die zur Oper Armide schließlich mit einer mittleren Besetzungsstärke in der Art einer damals üblichen Hofkapelle. Es ist erstaunlich, wie deutlich sowohl die Bearbeitungen an sich, als auch die Art der Ausführung den Charakter der Musik bereits verändern, ohne dabei etwas von ihrer Kraft und Erhabenheit wegzunehmen. Die Annäherung an Mitteleuropa vollzieht das Orchester unter Leitung von Dominik Kiefer aber auch in seiner Interpretation, in der das geschmeidig-tänzerische und rhetorische Element zurücktritt zugunsten struktureller Klarheit. So bleibt nur in wenigen Sätzen (v.a. aus „Armide“) noch der Bezug zum musikdramatischen Geschehen erkennbar, die Ouvertures erstarken zur eigenständigen Form.
Eine ebenso aufschlussreiche wie wohltönende Spurensuche.
Sven Kerkhoff
Trackliste
14-21 Ouverture avec tous les Airs à jouer de l´Opéra d´Atys 14:22
22-35 Ouverture, Chaconne 6 Tous les autres Airs à jouer de l´Opéra d´Armide 23:21
Besetzung
Dominik Kiefer: Ltg.
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |