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Reviews

Stockhausen, K. (Hudacsek)

STRAHLEN (RAYS) für einen Schlagzeuger


Info

Musikrichtung: Neue Musik Schlagzeug / Elektronik

VÖ: 01.10.2011

(Stockhausen CDs / Stockhausen-Verlag / CD / DDD / 2009-2010 / Best. Nr. CD 75)

Gesamtspielzeit: 35:00

EIN ENGELKONZERT FÜR DIE ASTRONISCHE EPOCHE

Immer noch gibt es Unaufgeführtes oder Uneingespieltes aus der Feder des 2007 verstorbenen Karlheinz Stockhausen. Die von ihm gegründete Stockhausen-Stiftung für Musik sorgt dafür, dass diese Lücken in der hauseigenen Diskografie nach und nach geschlossen werden. Inzwischen umfasst der Katalog der Beinahe-Gesamteinspielung 100 Nummern, hinter denen sich nicht selten mehrere CDs verbergen. Luxuriös!
Bislang fehlte allerdings noch CD Nr. 75. Jetzt endlich ist das vorgesehene Stück mit dem Titel STRAHLEN produziert worden. Stockhausen hatte dieses Werk bereits 2002 konzipiert und zunächst auch die Realisierung betreut, es aber wegen anderer Projekte und des immensen technischen Aufwandes nicht mehr zur Aufführung bringen können. Erst nach seinem Tod wurde weiter daran gearbeitet, wobei für die Klärung der technischen und musikalischen Fragen mit Kathinka Pasveer und Rudolf Frisius zwei Stockhausenspezialisten zur Verfügung standen.

STRAHLEN ist eine spezielle Version vom Chorpart der Szene HOCH-ZEITEN, die aus der jüngst in Köln uraufgeführten Oper SONNTAG aus LICHT stammt. In den HOCH-ZEITEN singen fünf zweistimmige Chorgruppen in verschiedenen Tempi auf mystische oder erotische Dichtung in verschiedenen Weltsprachen. Es handelt sich um eine Art universale Liebes-Feier, in der alle Weltkulturen sich zu einer neuen, höheren Einheit verbinden. Bei aller Komplexität ist die Musik fasslich und sinnlich zugleich.
In STRAHLEN wird die Musik einem einzelnen Schlagzeuger, dem Vibraphonspieler Lázló Hudacsek, anvertraut. Da ein einzelner Spieler live nicht alle zehn Stimmen bewältigen kann, wählt er eine Stimme aus, die übrigen sind vorproduziert und werden vom Tonband zugespielt.
Zentral für Stockhausen ist die Polyphonie der Tempi. Deren Zusammenspiel muss hörbar werden, damit der Hörer selbst in unterschiedlichen Pulsen mitzuschwingen kann. Vom reichen Klangfarbenspektrum der menschlichen Stimme sind die sinustonartig reinen Vibraphonklänge denkbar weit entfernt. In dem ursprünglichen Chorstück werden zudem sehr lange Haltetöne gefordert. Auch Glissandi in allen Variationen spezielle Umfärbungen des Klangs sind vorgeschrieben. Schließlich sorgen exotische Sprachen wie Chinesisch oder Arabisch per se für ein besonderes Kolorit. Einen vergleichbaren Reichtum an Farben und Effekten mit dem viel begrenzteren Vibraphon aufklingen zu lassen, scheint zunächst unmöglich. Aufführungspraktisch ist also eine Art Quadratur des Kreises gefordert.

STRAHLEN ist darum eine Hybride aus elektronischer Musik und Schlagzeug-Musik geworden, bei der instrumentale und technische Grenzen ausgelotet werden. Ohne die monatelange Arbeit des Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, das den Kompositionsauftrag erteilte, wäre eine Verwirklichung nicht möglich gewesen. Ein ganzes Team von Technikern und Programmierern war über Monate damit beschäftigt, die tausende von Einzeltönen, aus denen STRAHLEN besteht, auf der Grundlage von Samples gemäß den Partiturvorgaben zu erzeugen und zu montieren. Die kurzen Vibraphonklänge wurden künstlich auf die geforderte Länge gebracht. Mit allerlei Gerätschaften aus dem Baumarkt und elektronischer Nachbearbeitung konnten eigentümliche Klangfarbeneffekte erzielt werden. Dazu realisiert Hudacsek seine Partie unter virtuoser Ausnutzung aller möglichen spieltechnischen Kniffe und Tricks, simuliert stufenlose Glissandokurven und farbige Rauschklänge durch spezielle Anschlagstechniken.
Entstanden ist eine psychedelische, gläsern-kühle Klangwelt aus schwebenden und pulsierenden Klangkurven und -punkten. Historisch muss man schon bis zu Mozarts Adagio für Glasharmonika zurückgehen, um etwas von vergleichbar irrealer Schönheit zu finden. So singt es im Inneren von Kristallen.
Die ursprünglichen Singstimmen sind hier völlig entkörperlicht, es gibt nur noch ein reines, lichtes Schwingungsmuster: Claritas - Lichtheit pur. Manchen mag diese Version auch zu „überbelichtet“ und darum im wahrsten Sinne eintönig erscheinen, weil sich die Grenzen des gewählten Instruments auch durch technische Hilfsittel nicht wirklich ausgleichen lassen. Einschübe und Episoden, die in der Vokalfassung auch einen dramaturgischen Sinn ergeben, wirken zudem wie rätselhafte Fremdkörper, was aber durchaus im Sinne des Komponisten sein dürfte.

Ist STRAHLEN eine Art Engelkonzert für die „astronische Epoche“, die alles, was es gibt, musikalisiert und zu einem großen Ganzen auskomponiert, um daraus „All-Musik“ zu schaffen (Stockhausen)?
Auf gewisse Weise hat Stockhausen mit diesem Stück für sein kosmisches Mysterienspiel LICHT noch eine Art Nachglühen komponiert, einen weiteren SONNTAGS-ABSCHIED. Licht ist für den Komponisten das göttliche Ursymbol und man kann STRAHLEN durchaus als musikalisches Bild für die ausstrahlenden schöpferischen Energien Gottes hören, oder - wie es der Komponist in einem Interview andeutete - jene kosmischen, bewusstseinserweiternden Strahlen imaginieren, die den Menschen daran erinnern, dass er eigentlich ein Engel sein möchte … Auch das Thema der HOCH-ZEITEN war ja die allumfassende Kommunion zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch.
Wem das zu esoterisch ist: STRAHLEN funktioniert auch einfach als ätherischer Klangfarbenzauber, wobei der Reiz darin liegt, dass die zarten Lichtbögen in unterschiedlichen und wechselnden Tempi fluktuieren.

Wegen der voll ausgesteuerten Vibraphonklänge empfiehlt sich eine gute Anlage für die Wiedergabe. Zwar ist der Klangraum durch die Stereo-Version gegenüber einer Live-Aufführung notwendig verkleinert. Allerdings bekommt man via CD eine „Nahsicht“ auf das Stück, die die vielen delikaten Details und Farbwerte prägnant hervortreten lässt.

STRAHLEN dauert 35 Minuten und der Preis für die Platte, die man direkt unter www.stockhausen.org beziehen kann, ist mit € 23.- recht üppig. Eine passende Ergänzung zu finden, ist bei dieser Komposition sicherlich schwierig. Doch hätte der reine Chorpart der HOCH-ZEITEN auf der CD noch Platz gehabt - diese Version ist sonst nur in einer besonderen Box enthalten, die zugleich sämtliche einzelne Chorparts enthält und dem Studium dient (CD 71). Auf diese Weise hätte man die sehr reizvolle Vokalfassung auch einem breiteren Kreis von Hörern zugänglich machen können.



Georg Henkel

Besetzung

Lázló Hudacsek: Vibraphon
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