Lazarus

Exegesis


Info
Musikrichtung: Melodic White Metal

VÖ: 12.01.2024

(Cult Metal Classics)

Gesamtspielzeit: 68:33

Internet:

http://www.sonicagerecords.com


1991 erschien in Kooperation von Edge Records (UK) und Pure Metal Records (USA) ein Sampler namens White Metal Warriors, der fünf britische Bands des christlichen Metalspektrums mit je zwei Songs vorstellte. Drei von ihnen, nämlich Seventh Angel, Detritus und Stairway, machten in der Folgezeit mit etlichen Alben auf sich aufmerksam, Maverick und Lazarus hingegen verschwanden in den Äonen der Musikgeschichte.
Dabei hatten auch letztere eigentlich schon den Fuß in der Tür: Edge Records nahm das Quintett unter Vertrag, und im 2. Quartal 1991 wurde ein Album mit dem Arbeitstitel Catharsis aufgenommen. Danach passierte allerdings nichts mehr, außer dass sich der Arbeitstitel zu Exegesis änderte: Eine Kombination aus einer Rezession in England und dem Fakt, dass in den Frühneunzigern der traditionelle Metal auf dem absteigenden Ast war, führte dazu, dass sich Edge Records weigerten, das praktisch fertige Album zu veröffentlichen – sie entließen Lazarus aber auch nicht aus dem Vertrag. Dieser kuriosen und hochgradig unbefriedigenden Situation entkam das Quintett nur durch eine Bandauflösung, und die Musiker zerstreuten sich in alle Winde. Die Information, dass es das Material für das Album in veröffentlichungsfähiger Form gibt, kursierte aber in Spezialistenkreisen noch jahrzehntelang, und als Olaf Becker, einer der besten Kenner der christlichen Metalszene auf der ganzen Welt, es schaffte, Kontakt zu Gitarrist Stuart Pope aufzunehmen, kam über mehrere Zwischenschritte der Stein ins Rollen, Exegesis doch noch herauszubringen, und zwar über die griechischen Spürnasen von Cult Metal Classics, denen die heutige Hörerschaft schon so manche (Wieder-)Entdeckung verdankt. Im vorliegenden Fall geht diese Geschichte im biblischen Sinne sogar als unvermeidlich durch, war doch auch der neutestamentliche Lazarus bereits tot, ehe er wieder zum Leben erweckt wurde. Und obwohl sich die Band bisher nicht offiziell wiedervereinigt hat, haben jetzt zumindest 500 metallische Gourmets die Chance, sich ihr Schaffen in voller Schönheit, wenn auch nicht in voller Komplettheit, anzuhören.
Wer die Band noch von den beiden Songs auf White Metal Warriors, nämlich „Do Or Die“ und „Overpower“, kennt, wird allerdings für die elf regulären Albumsongs möglicherweise ein wenig Anlaufzeit brauchen. Der ziemlich kernige, speedige Metal ist nämlich einer etwas gediegeneren Melodic-Metal-Variante gewichen – böse Zungen würden davon sprechen, die Band sei kommerzieller geworden, was damals bekanntlich noch als schimpflich galt. Geht man allerdings neutral an die Sache heran, wird schnell klar, dass Lazarus ihren neuen Stil sehr gut beherrschen und den Teufel tun, ihre Songs etwa mit alternativen Elementen, mit Sleaze oder mit Funk anzureichern, womit sie seinerzeit im Trend gelegen hätten. Nein, Traditionalisten sind sie immer noch durch und durch, aber sie verschachteln ihre Songs stärker, nehmen das hohe Tempo etwas heraus und lassen Paul Jarrett eine ziemliche Rhythmusvielfalt aus seinen Drums holen. In der Gesamtbetrachtung entsteht so eine Art britische Antwort auf Queensrÿche, allerdings immer noch etwas urwüchsiger als diese zu den damals gerade aktuellen Empire-Zeiten. Außerdem artikuliert sich Jonathan Budd eine Oktave unter Geoff Tate und zugleich einen Deut rauher als dieser, was zugleich als Abgrenzungskriterium zur christlichen US-Antwort auf Queensrÿche, nämlich Recon, diesen kann. Gleitet Budd doch mal nach ganz oben wie in der Mitte von „Aquarian Conspiracy“, kann es durchaus passieren, dass er ein ganz klein wenig angestrengt wirkt, aber über das Gros der Strecke hinweg liefert er eine starke Leistung ab, hier und da noch wirkungsvoll gestützt von den Backings aus der Kehle von Bassist Mark Robins. Und speziell in der Ballade „Mockingbird“ folgt man den Leadgesangslinien mit großer emotionaler Anteilnahme.
Die Instrumentalisten präsentieren sich allerdings auch als sehr fähig, ohne dass sie das permanent in den Vordergrund rücken müssen. Klar, gleich der Opener „Seein‘ Ain’t Always Believin‘“ packt ein großes flitzefingeriges Solo aus, aber ansonsten spielen beide Gitarristen sehr songdienlich. Und songwriterische Ideen hat das Quintett zweifellos etliche ziemlich gute, was ebenfalls schon beim gleichermaßen verschachtelten wie phasenweise zügigen Opener losgeht. Mit „Violent Obsession“ zeigen sie gleich danach, dass sie auch etwas kompakteren Hardrock beherrschen, und „Caesar Rush“ macht klar, dass sie eine Ader zu „programmatischer Musik“ haben, wenngleich es hier nicht um die Christenverfolgungen im alten Rom geht, die man sich mit dem heftigen Mittelteil abgebildet vorstellen könnte, sondern um Machtge- und –mißbrauch gerade auch im Namen der eigentlich Liebe predigenden Religion. Am ehesten an die alten Zeiten erinnert der vorwärtspreschende Speed von „Utopia“, kontrastiert allerdings mit einem geräuschesammelnden Mittelteil inclusive einer Bohrmaschine, was sich Lazarus, wie Budd im Booklet zugibt, von einer anderen Band abgeschaut haben – er nennt keinen Namen, aber es könnten Mr. Big oder Van Halen gewesen sein. „Aquarian Conspiracy“ wiederum ist der wohl verschachteltste Song auf der Scheibe und macht sich über die ganzen New-Age-Bewegungen lustig – den kompliziertesten Rhythmus fährt hingegen ein mehrfach wiederkehrender, mit einer Art appellierendem Sprechgesang versehener Part im verhinderten Titeltrack „Catharsis“ auf (analysiere das musikalisch, wer will – textlich geht’s hier um Jesus in der Ich-Form, der gerade ans Kreuz geschlagen wird). Und im Refrain von „Love Is A Crimson Flood“ lugen Lazarus dann doch mal um die Ecke der Modernisten und lassen Jarrett einen der damals angesagten verschobenen Rhythmen spielen – dass sie das nicht ganz so ernst nehmen, zeigt dann aber das Hauptsolo, das erst Robins‘ Baß prägt, und dann ruft jemand „Jazz time!“, und alle spielen für einen Moment Jazz. Das länger als für ein paar Takte zu tun traute sich die Band dann aber offenbar doch nicht – die Altfans hatten wie erwähnt sowieso einiges zu tun, um sich das Material zu erschließen. Mit gleich zwei kurzen und strukturell ungewöhnlichen Nummern klingt die originale Fassung von Exegesis aus. Da wäre zunächst die Akustikballade „If I Were You“, in der Robins im Duett mit Budd singt und die als eine Art Antwort auf Lennons „Imagine“ gedacht war, und zwar in dem Sinne, dass richtig interpretierte Religion durchaus nutzbringend ist. Track 11 schließlich ist eine metallische Coverversion von „What A Friend“, einem auch unter dem längeren Titel „What A Friend We Have In Jesus“ bekannten Traditional, das man beispielsweise von Arethra Franklin kennt – leider beschränken sich Lazarus auf einen einzigen Durchlauf ohne weitere Variationen oder Soli. Aus der Idee hätte man mehr machen können.
Wer White Metal Warriors nicht besitzt, bekommt auf dem vorliegenden Release die beiden Lazarus-Beiträge nachgeliefert – und anhand dieses Höreindrucks wird der grundsätzliche Unterschied in der Herangehensweise deutlich, wenngleich Lazarus auch hier schon ein paar Gimmicks versteckt haben, etwa das kurze Baßbreak vorm Refrain von „Do Or Die“. Außerdem waren ihnen einprägsame Refrains hier noch wichtiger – beide gehen viel schneller ins Ohr als die des Albummaterials. Ob Lazarus für den Sampler gezielt zwei speedige Nummern eingespielt haben (möglicherweise weil sie wußten, dass mit Seventh Angel und Detritus zumindest zwei sehr harte Bands dabei waren) oder ob ihr Frühwerk generell speedlastig war, müssen Kenner dieses Frühwerks beurteilen – der Rezensent gehört nicht dazu, da er das Drei-Track-Demo Into The Realm von 1989 nicht besitzt (neben dem Titeltrack ist da mit „Cross The Rubicon“ noch ein weiterer unbekannter Song drauf, der dritte ist eine Frühfassung von „Do Or Die“) und es auch nicht als Bonus für die vorliegende CD-Veröffentlichung verbraten wurde. Auch das allererste Demo, auf dem u.a. der Song „Run To Nowhere“ stand, wurde hierfür nicht herangezogen. Statt dessen bekommen wir noch einen anderen Demotrack zu hören, nämlich „Onto Jerusalem“, ein wenig unterproduziert, aber gut hörbar und relativ doomig schleppend, hier und da ein bißchen an den Black-Sabbath-Klassiker „Heaven And Hell“ erinnernd, aber einen Deut schneller als dieser und zudem Jarrett einige intensive, teils stakkatoartige Schläge und Wirbel setzen lassend. Der Sänger klingt hier etwas anders als auf den späteren Aufnahmen – möglicherweise hören wir hier noch Budds Vorgänger, dessen Existenz zwar verbürgt ist, aber dessen Name dem Rezensenten bisher apocryph geblieben ist. Vom Songwriting her stammt diese Nummer her jedenfalls aus der gleichen Zeit wie die beiden auf White Metal Warriors gelandeten Tracks.
In der Gesamtbetrachtung bleibt eine sehr erfreuliche Wiederentdeckung, sofern man nicht zu der Fraktion gehört, die ob des nicht weiterverfolgten speedigen Kurses grämlich dreinblickt. Wer Queensrÿche zu Empire-Zeiten grundsätzlich schätzt, aber lieber einen etwas tiefergelegten Sänger haben möchte, der könnte hier glücklich werden – und wer gediegenen, etwas verschachtelten, aber noch nicht ins Prog-Lager abdriftenden Melodic Metal mag, der ist hier sowieso goldrichtig. Das Booklet enthält neben historischen Fotos ausführliche Liner Notes in Gestalt zweier Interviews von Olaf Becker mit Stuart Pope, davon das erste zu einer Zeit, als an den Re-Release noch nicht zu denken war, dazu Infos von Jonathan Budd zu allen Albumtracks sowie die Lyrics aller Tracks der CD, also auch der drei Boni. Und in einem der Interviews wird angedeutet, dass die Band darüber nachdenkt, auch noch das weitere alte Material entweder aufzubereiten oder neu einzuspielen – die elf Songs von Exegesis wurden allesamt erst unmittelbar vor dem Studiotermin geschrieben, das komplette Repertoire der Jahre bis 1990 ist also mit Ausnahme der Samplertracks und des wie erwähnt aus der Sampler-Zeit stammenden „Onto Jerusalem“ noch unveröffentlicht, wobei die Formation in der Tat früher anders geklungen und eher Einflüsse von ZZ Top oder (in „Run To Nowhere“) Survivor verarbeitet haben soll. Ob auch dieser Teil des Lazarus-Schaffens noch auferstehen wird, bleibt also gespannt abzuwarten, wenngleich man sich auch dann wieder auf stilistische Abweichungen einstellen müssen wird. Bis dahin lohnt sich aber die Beschäftigung mit Exegesis definitiv.



Roland Ludwig



Trackliste
1Seein‘ Ain’t Always Believin‘6:23
2Violent Obsession5:58
3Silver Goddess5:50
4Caesar Rush4:24
5Aquarian Conspiracy5:15
6Mockingbird6:03
7Utopia5:05
8Catharsis5:30
9Love Is A Crimson Flood6:09
10If I Were You1:28
11What A Friend1:08
12Do Or Die5:06
13Overpower4:42
14Onto Jerusalem5:23
Besetzung

Jonathan Budd (Voc)
Stuart Pope (Git)
David Bridge (Git)
Mark Robins (B, Voc)
Paul Jarrett (Dr)



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