Dream Theater

Master Of Puppets – Live In Barcelona, 2002


Info
Musikrichtung: Progressiver Metal

VÖ: 17.09.2021 (04/2004)

(InsideOut / Sony)

Gesamtspielzeit: 57:50

Internet:

http://www.insideoutmusic.com
lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net


Dass Dream Theater Spaß am Covern haben, ist spätestens seit dem 31. Januar 1995 geläufig, als sie im Ronnie Scott’s Jazz Club in London einen ganzen Coverabend spielten, der dann in Auszügen auf der A Change Of Seasons-EP veröffentlicht wurde. Im Set fand sich auch Metallicas „Damage, Inc.“, wurde aber nicht für die CD ausgewählt. Die Affinität der Ostküstler zu den Westküstlern fand ein weiteres Zeichen, als „Peruvian Skies“ schon in seiner Demofassung und dann auch noch in der Studioversion auf Falling Into Infinity eine Passage beinhaltete, die dem Hauptthema von „Enter Sandman“ so sehr ähnelte, dass die New Yorker in den künftigen Livedarbietungen gern mal längere Passagen der betreffenden „Hommage-Nummer“ einjammten, wenngleich die „Hommage“ in diesem Falle wohl nicht mit Absicht entstanden ist, sondern irgendwann irgendjemandem in der Band die Ähnlichkeit aufgefallen sein wird, wonach ein Gedanke den nächsten ergeben haben dürfte.
Man schrieb letztlich das Jahr 2002, als Dream Theater ihre bereits seit den Mittachtzigern bestehende Verehrung für Metallica auf ein bisher nicht dagewesenes Level hievten, und zwar nicht nur in ihrer eigenen Spielpraxis, sondern in der Musikwelt überhaupt. Ein Zugabenblock sieht auf Konzerten üblicherweise so aus, dass die betreffende Band noch ein- oder zweimal auf die Bühne zurückkehrt, in Summe meist einen bis drei Songs zugibt und dann endgültig Schluß ist. Doro hatte auf ihrer Tour zum Angels Never Die-Album im Herbst 1993 in Chemnitz beim damals zweiten Metalkonzert des Noch-Nicht-Rezensenten einen Rekord aufgestellt, indem sie drei Zugabenblöcke mit je zwei Songs auspackte, summiert also immerhin sechs zusätzliche Songs nach einem auch nicht gerade kurzen Hauptset. Dream Theater trieben das Ganze nun aber auf die Spitze, als sie beim Konzert in Barcelona am 19.2.2002 als Zugabe Master Of Puppets spielten – und zwar nicht nur den Song dieses Titels, sondern das komplette so benannte Album von vorn bis hinten, auch in seiner Originalreihenfolge, was summiert immerhin eine knappe Stunde Extraspielzeit bedeutete.
Zum Glück war jemand auf die Idee gekommen, diesen Gig mitzuschneiden, und so blieb diese Idee auch für die staunende Nachwelt erhalten, da Mike Portnoy sie als einen der ersten Teile anno 2004 im Zuge der Lost Not Forgotten Archives-Serie aufbereitete und veröffentlichte, wobei der aktuelle Re-Release im Digipack wieder mal ohne weitere Zusatzinformationen auskommen muß und man nur in den Liner Notes des Originals erfährt, dass die drei Ur-Instrumentalisten der Band schon seit den Mittachtzigern glühende Metallica-Anhänger sind und ebenjenes Master Of Puppets-Album seinerzeit rauf- und runterhörten.
Die Soundqualität des Mitschnitts ist recht gut – ob Portnoys Drumming bewußt einen Sound aufweist, der dem Kartoffeldrumming von Lars Ulrich nahekommt, oder ob das einen Zufall darstellt, kann und muß an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Dass die Instrumentalisten konditionell keine Probleme mit der zusätzlichen Spielstunde haben würden, davon war auszugehen. Knackpunkt des Ganzen ist freilich die Stimme von James LaBrie – immerhin hat der Mann schon einen nicht ganz anspruchslosen, nicht eben kurzen Hauptset in der Kehle, und so verwundert nicht, dass er an einigen Phrasenenden etwas nach unten abkippt, sie kürzt oder mal etwas neben der Ideallinie landet. James Hetfield mag 1986 nicht der beste Sänger unter der Sonne gewesen sein (er ist es bekanntlich bis heute nicht), aber markante Melodielinien intonieren konnte er schon damals durchaus, und LaBrie muß sich durchaus hörbar anstrengen, um da mitzuhalten – und rauhes Shouting ist sowieso nicht so ganz die Welt, in der er sich wohlfühlt, so dass er in solchen Passagen generell bisweilen einen etwas zu bemühten Eindruck hinterläßt, obwohl er sich durchaus nicht schlecht aus der Affäre zieht.
So bleibt die spannende Frage, wie es Dream Theater geschafft haben, das musikalische Material vom Zwei-Gitarren-Original auf ihre Besetzung mit einer Gitarre plus Keyboards umzubauen. Und hier kommen wir zum nächsten Knackpunkt: Zwar ist John Myungs Baß, der sonst gern ein wenig ins Abseits gestellt wird, diesmal dominant genug, um von unten her die bei nur einer Gitarre deutlich wichtigere Stützfunktion zu übernehmen, aber Jordan Rudess wird leider weitgehend untergebuttert. Man hört ihn in einigen Solopassagen, die die Band von der Gitarre zum Keyboard verschoben hat, sehr gut, aber ansonsten steht er klanglich sehr weit im Hintergrund oder verschwindet akustisch so weit, dass man vermutet, er sei gar nicht da. Das ist sehr schade – hier wären spannende Lösungen zu erwarten gewesen, zumal Rudess in den ihm zugefallenen Soli natürlich unter Beweis stellt, dass ihn diese Aufgabe nur ein Lächeln kostet. Sollte er bisweilen an eine zweite Gitarre gewechselt sein? Hier und da hört man definitiv zwei Gitarrenlinien, allerdings kann es sein, dass John Petrucci die eine vorher eingeloopt hat und sie danach doppelt – schön zu hören um Minute 6 von „Orion“, wo Rudess kurz danach aber ein Keyboardsolo spielt, also entweder blitzartig gewechselt haben muß oder die Loopvariante tatsächlich die Lösung ist. Gerade in „Orion“ aber wären mit dem Einsatz von Keyboards noch einmal deutliche Steigerungen des atmosphärischen Eindrucks möglich gewesen – diese Chance hat die Band leider vertan.
Andererseits muß man sich mal vor Augen führen, was das hier eigentlich ist – ein Zugabenblock (dem im Konzert übrigens noch zwei Eigenkompositionen als weitere Zugaben folgten), also eine Extraleistung, an der wir uns erfreuen dürfen, wenn wir live dabeigewesen sind, und niemand zwingt uns, die konservierte Fassung zu erwerben, da wir gegebenenfalls auch weiterhin das Original hören können. Für eingefleischte Metallica-Anhänger könnte es natürlich einen Heidenspaß machen, genau zu analysieren, wo Dream Theater das Original 1:1 notengetreu nachspielen und wo sie Änderungen vornehmen. Und an der Spielfreude gibt es generell nichts auszusetzen. Auffällig ist nur, dass der Publikumsjubel rings um die ersten beiden Songs deutlich markanter eingemischt ist als im Rest des Sets – selbst nach dem finalen „Damage, Inc.“ hört man die vielen anwesenden Katalanen nur ganz in akustischer Ferne „Olé, olé, olé, olé“ singen. Ob sie sich des musikhistorischen Moments bewußt waren? Vielleicht. Gesamtaufführungen eines Albums, wenn es sich nicht wie bei Operation: Mindcrime um ein Konzeptalbum handelte, besaßen anno 2002 noch Seltenheitswert (heute ist sowas ja gang und gäbe), und einige der Songs hatten Metallica selbst zu dieser Zeit kaum jemals live gespielt, „Orion“ gar überhaupt noch nie als Ganzes, sondern immer nur in Auszügen. Außerdem tritt der Überraschungsfaktor hinzu: Dream Theater hatten ihre Absicht vorher nicht angekündigt, auch nicht am Vorabend an gleicher Stelle, als sie einen mit Ausnahme des Openers „The Glass Prison“ und der Zugabe „Act II, Scene 8: The Spirit Carries On“ komplett anders bestückten Set spielten, der indes nur aus Eigenkompositionen bestanden hatte, während der zweite Abend im Hauptset noch die Liquid-Tension-Experiment-Nummer „Another Dimension“ enthielt.
So ist dieser Livemitschnitt eine gute Dokumentation der überwiegend starken Umsetzung einer grandiosen Idee – nicht mehr, aber immerhin auch nicht weniger. Wieviel Geld man dafür ausgibt und wie oft das Werk letztlich im Player landet, das entscheidet wie üblich jeder nach seinen individuellen Präferenzen.



Roland Ludwig



Trackliste
1Battery5:15
2Master Of Puppets8:45
3The Thing That Should Not Be7:04
4Welcome Home (Sanitarium)6:43
5Disposable Heroes8:11
6Leper Messiah5:58
7Orion9:20
8Damage, Inc.6:28
Besetzung

James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Jordan Rudess (Keys)
John Myung (B)
Mike Portnoy (Dr)



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