Die Moldau-Amazonen finden sich nicht: Das Gewandhausorchester spielt Smetanas Má vlast
Böhmische Musik taucht aktuell eher selten auf dem Spielplan des Gewandhauses auf – äußeres Zeichen für diesen Umstand ist der Fakt, dass man für die aktuelle Saison einen „Fokus Böhmen“ ausgerufen hat und mit mehreren Konzerten sowohl im Orchester- als auch im Kammermusikbereich den musikalischen Perlen des Nachbarlandes zu neuem Glanz verhelfen will, was ja nicht nötig wäre, befänden sie sich im Kernrepertoire. Interessanterweise leitet die beiden aktuellen böhmischen Orchesterkonzerte nicht etwa ein Dirigent aus diesem Areal, sondern der New Yorker Alan Gilbert, was freilich aufgrund der prägenden Periode Antonín Dvoráks in ebenjener Stadt eine Art eigenen Charme entfaltet. Das reine Dvorák-Programm in der Vorwoche bringt der Rezensent leider nicht im Terminkalender unter, aber beim zweiten Programm ist er anwesend, und hier gibt es eines der wohl populärsten Orchesterwerke aus der Feder eines böhmischen Komponisten überhaupt: Bedrich Smetanas Má vlast (als Mein Vaterland im deutschsprachigen Raum bekannt geworden, obwohl die wörtliche Übersetzung eigentlich „Meine Heimat“ lautet) war zu DDR-Zeiten Schulunterrichtsstoff der Klasse 6 im Fach Musik, nicht der ganze Zyklus freilich, aber der zweite Satz „Vltava“ oder „Die Moldau“, und von daher dürften ganze Generationen von Musikhörern zumindest noch das eine große Hauptthema im Ohr haben. Das ist natürlich nicht alles, was das Werk bietet. Seine sechs Sätze dauern summiert etwa 75 Minuten, und so läßt es sich schwer mit anderen Kompositionen koppeln, ohne Überlänge und/oder Ungleichgewichte zu erzeugen – ergo bleibt es das einzige Werk des Programms und wird zudem durchgespielt, wenngleich die sechs Sätze nicht attacca ineinander übergehen und somit eine Pause nach Satz 3 zumindest theoretisch durchaus möglich, dramaturgisch allerdings nicht gerade geschickt wäre. Kernrepertoire des Gewandhausorchesters war dieses Stück übrigens vor Jahrzehnten tatsächlich, und unter Leitung von Václav Neumann hat es 1968 auch den Weg auf Schallplatte gefunden (siehe Coverabbildung), kurz bevor Neumann seinen Posten als Gewandhauskapellmeister wegen der Niederschlagung des Prager Frühlings niederlegte – eine Aufnahme, die es seit 2002 auch als Einzel-CD gibt. Also hinein ins Geschehen! Das Werk hebt nicht etwa mit „Vltava“ an, wie der sich nur noch diffus Erinnernde irrtümlich mutmaßen könnte, sondern mit „Vysehrad“, also der verschwundenen der beiden historischen Prager Burgen. Ähnlich verschwommen wie die Erinnerung an das Bauwerk mutet freilich die Wiedergabe der Einleitung an diesem Abend an: Das Harfensolo und die Hornpassagen stehen wie unabhängig im Raum, die übernehmenden Holzbläser sind von einer gemeinsamen Linie auch ein Stück entfernt, und erst die Streicher können als Kitt wirken, bevor mit dem ersten Beckenschlag die vom Dirigenten gewünschte Größe und Abrundung da ist. Trotzdem bleibt eine Grundnervosität im Orchester lange Zeit erhalten, die die Störgeräuschdichte von den Rängen nicht eben abmildern hilft, und nicht bei allen Tempovariationen zieht jeder Musiker wie gewünscht mit. Trotzdem schafft es Gilbert, die gewünschte Dramatik im langen Mittelteil zu transportieren und zudem ins Pianissimo einiges an Spannung zu legen, die freilich gleich wieder verschwindet, wenn sich weder Harfe und Hörer noch Pauke und Becken zusammenfinden. Dass der Dirigent in den behutsam geformten Schluß trotzdem einiges an Fragilität bekommt, spricht für seine Klasse. „Vltava“ ist dann überwiegend als richtig schön zu bezeichnen, zumal Gilbert und das Orchester nicht in die Falle tappen, es mit der Naturalistik zu übertreiben. Trotzdem oder auch gerade deswegen läuft einem beim bekannten Hauptthema ein wohliger Schauer über den Rücken, und zudem überzeugt Gilberts Dynamikgestaltung auch hier wieder, namentlich in den kleinteiligen Passagen wie etwa dem Fest der Landleute, wenngleich auch hier einsatztechnisch längst nicht alles gelingt wie erhofft. Die Elfen tanzen mit großer Lieblichkeit, die Stromschnellen sind angemessen wild, ohne vernichtende Wirkung zu entfalten, und dass jemand noch in die beiden Schlußakkorde hineinhustet und den dort ultrascharfen Streichern den Effekt nimmt, dafür kann keiner der Musiker was. „Sárka“ erzählt eine Amazonengeschichte aus der böhmischen Mythologie und gibt Gilbert abermals die Gelegenheit, sein dramaturgisch geschickt gestaltendes Händchen zu beweisen: Der einleitende Streit legt zwar den Grundstein für den späteren Konflikt, bleibt aber volumenseitig gemäßigt, und der Soloklarinette in der Rolle der Titelfigur wird ausreichend Platz gelassen, indem sie vor oft weit zurückgenommenem Hintergrund agiert. Das herrlich schräg knarzende Fagott, das einen Schnarcher darstellen soll, muß gesondert erwähnt werden, bevor die Waldidylle plötzlich in ein Gemetzel umschlägt, das Gilbert freilich immer noch ein gutes Stück unterhalb der Dynamikobergrenze ansiedelt. In „Z ceských luhuv a hájuv“, also den böhmischen Hainen und Fluren, werden zunächst akustisch die Leichen des soeben erlebten Gemetzels begraben (deshalb ist das Werk dort nur schwer unterbrechbar), bevor sich Kammermusik mit wieder beträchtlichem Lieblichkeitsfaktor entwickelt – der Problemfall, dass sich nicht immer alle Partner so finden wie geplant, bleibt freilich auch hier erhalten und kann nicht mit den Schnarchgeräuschen erklärt werden, die diesmal nicht geplant aus dem Fagott, sondern ungeplant von der linken Orchesterempore kommen. Die Scharten wetzt das Orchester freilich mit einer extrem gekonnten schwingenden Leichtigkeit in den späteren energischeren Passagen dieses Satzes aus, und der Fluß der Energie ist diesmal ungebrochen, gekrönt durch die sehr kompetent sägenden Streicher im Satzschluß. Zum gestaltungstechnischen Höhepunkt des Abends wird aber Satz 5, „Tábor“. Übersetzt man die von Gilbert umgesetzten Stimmungen in düstermetallisches Vokabular, so wird aus einem fahlen Classic Doom bald finsterer Funeral Doom, der sich danach phasenweise aufhellt, wobei das Tempo aber weit unten angesiedelt bleibt. Der brillante übergangslose Wechsel ins Feierliche stellt allen Beteiligten ein exzellentes Zeugnis aus, die Behandlung der eine Art Basso Continuo spielenden Hörner als Fremdkörper dürfte gestalterische Absicht gewesen sein, und der brutale Satzschluß weist in dieser Lesart weit in die musikalische Zukunft, nämlich in Richtung Schostakowitsch. In „Blaník“ schließlich gelingt zunächst eine exzellente Umformung des finsteren „Tábor“-Hauptthemas in einen gelockerteren Marsch, unterbrochen durch kammermusikalische Passagen – und jetzt endlich sind sich alle Beteiligten so traumwandlerisch einig, wie man sich das von Anfang an erhofft hatte. Einige Verzögerungen schüttelt sich das vom unprätentiös, aber wirkungsvoll dirigierenden Gilbert geleitete Orchester brillant aus dem Ärmel, der Solohornist gibt alles (und das ist sehr viel!), und die Kombination aus unprätentiösem Übergang in Scheinschluß und wirkmächtigem Übergang in Realschluß so auszumeißeln muß den Beteiligten dieses Abends auch erstmal jemand nachmachen, ebenso wie den gekonnten Mix aus fast schwingenden und ausgemeißelt wirkenden Passagen im Finale. Das erste Bravo ertönt noch in den Schlußakkord hinein, und der Applaus des vollbesetzten Gewandhauses fällt lange und ausdauernd aus, wenngleich der letzte Enthusiasmus fehlt, was das Gesamtbild der Aufführung durchaus real widerspiegelt: Sehr viel Gutes – aber einige kleine Wünsche bleiben doch offen. Roland Ludwig |
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