Dritte Wahl: Kein Album ist normal!
Wirklich weg waren die Rostocker Punkrocker von DRITTE WAHL nie. Und doch liegt es schon ganze fünf Jahre zurück, dass sie ein Studioalbum veröffentlicht haben. Fortschritt war damals umso erstaunlicher, als dass sie kurz vor der Veröffentlichung ihren Freund und Bassisten Busch'n verloren haben. Vor zwei Jahren feierte das Trio dann sein 20-jähriges Bestehen standesgemäß mit einem großen Konzert und einer DVD, sowie einer Live-CD dazu. Bereits damals stand Gitarrist, Sänger und Songschreiber Gunnar Schröder MAS Rede und Antwort (s. Interview). Nachdem jetzt endlich die achte und sinnigerweise Gib Acht! getaufte Platte erschien, war es an der Zeit ein weiteres Mal bei ihm anzuklopfen, um ihn mit ein paar Fragen zu seinem neuen „Baby“ zu löchern. Selbiges ist ein ganz und gar feines Scheibchen geworden, welches alles andere als nur eine normale Punkrockscheibe darstellt. Schon alleine musikalisch wagen DRITTE WAHL einen großen Blick über den Tellerrand hinaus. Keyboards, Klavier, Tröten und Dudelsäcke hört man in diesem Genre auch nicht alle Tage. Und auch nicht solch subtile und intelligente Texte wie bei der bedrückenden Ballade „Ich bin's“. Doch das ist nur eines von mehreren Beispielen, die man sich zu Gemüte führen sollte. Doch lassen wir nun Gunnar selbst zu Wort kommen:
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Wie war es, das erste Mal die neue Platte fertig in den Händen zu halten und den Fans präsentieren zu können? Da fällt doch sicherlich eine große Last von einem ab. Oder seid ihr nach all den Jahren als Profis gar nicht aufgeregt deswegen?
Wir, oder zumindest ich, waren ziemlich aufgeregt. Eine neue Platte ist immer was Besonderes und wenn man fünf ganze Jahre gebraucht hat um sie fertigzustellen, dann sind natürlich die Erwartungen auch groß. Außerdem freut man sich immer, wenn man sieht wie das Cover in echt aussieht. Man kennt zwar die Bilder schon, aber eben nur vom Rechner. Materialisiert kommen die Farben ja immer etwas anders und insgesamt wirkt es natürlich auch echter. Also, große Freude und auch entsprechende Aufregung sind immer dabei.
Ich kann mir vorstellen, dass es nach Busch'ns Tod nicht so einfach war einfach wieder zur Tagesordnung zurück zu kehren. Wie hast Du das kreative Loch überwunden?
Mir ist in den ersten zwei bis drei Jahren nach Busch'ns Tod nichts mehr eingefallen. Keine einzige Zeile! Das war schon beängstigend! Meine Jungs fragten auch immer schon vorsichtig nach, wann wir denn nun eine neue Platte machen würden. Ich musste dann sagen, dass ich nichts habe und dass wir warten müssen. Insgesamt habe ich aber versucht ruhig zu bleiben. Ich kenne diese Leere von früher. Eigentlich habe ich nach allen Platten kleine Ruhephasen eingelegt. Das hat sich immer gegeben. Diese Pause war nun etwas länger als gewohnt, aber es ging schließlich auch vorbei. „Wo ist mein Preis?“ war der erste neue Song nach fast drei Jahren.
Gib Acht! ist das erste Album, in dem Busch'n gar nicht mehr präsent ist. Markiert es damit auch einen neuen Abschnitt in der Geschichte von Dritte Wahl oder ist es einfach „ein weiteres, normales Album“?
Kein Album ist „normal“. Alle haben ihre Zeit und ihre Geschichte. Mit Gib Acht! sind wir unseren Weg musikalisch und textlich recht konsequent weitergegangen. „Was wäre wenn...?“ ist immer schwer zu sagen, aber ich kann mir vorstellen, dass unser achtes Album auch mit Busch'n ähnlich geworden wäre.
Als ich die neue CD das erste Mal gehört habe, war ich vom Sound etwas überrascht (positiver Natur). Das Ganze klingt etwas natürlicher und weniger metallisch. War es an der Zeit soundtechnisch einmal aufzuräumen?
Ja. Wir haben lange darüber nachgedacht wo wir soundmäßig eigentlich hin wollen. Das kann man in der Theorie immer sehr schwer beschreiben, zumal die Songs ja ziemlich unterschiedlich sind und am Ende aber doch als Einheit funktionieren müssen. Wir haben uns dann entschlossen, für den Mix und das Mastering ein anderes Studio zu probieren. Bei Jörg Umbreit in den Principal-Studios waren wir in den besten Händen. Wir sind mit dem Sound der neuen Scheibe sehr zufrieden.
Gib Acht! ist wahnsinnig abwechslungsreich. Passend dazu hattet ihr auch einige Gäste im Studio. Wie kam es zu den Zusammenarbeiten und wie liefen die Aufnahmen mit ihnen?
Bei den Produktionen in der Vergangenheit war es immer so, dass wir uns Freunde und Bekannte eingeladen haben, um uns zu unterstützen. Diesmal war es so, dass wir gezielt rumgefragt haben „wer kennt gute Bläser?“, „hast du einen fitten Dudelsackspieler am Start?“ oder „kennt jemand einen coolen Pianisten?“. Auf diese Weise kamen wir mit Leuten zusammen, die wir vorher nicht kannten und die auch mit uns nicht sehr viel anfangen konnten. Das war ganz gut so, denn die Musiker gingen ganz unvoreingenommen und frisch ans Werk. Es war natürlich auch toll, dass sich alle sehr bemüht haben die Sachen für uns einzuspielen. An dieser Stelle gleich noch mal ein fettes „Dankeschön“!
Unter den 14 neuen Songs befinden sich zwei Coverversionen. Zum einen habt ihr den Kinder-Schlager „Mama hol' den Hammer“ noch einmal etwas zackiger aufgenommen. Zum anderen ist „Keine Angst“ eine deutsche Version eines Songs der mir bisher komplett unbekannten polnischen Punkband Farben Lehre. Wie kam es zu der Nummer, ist das einfach eine 1:1-Übersetzung?
Farben Lehre sind in Polen ziemlich bekannt - so richtig mit Fernsehen usw. Wir haben uns vor Jahren mal beim Touren kennen- und schätzengelernt. Das ist wirklich eine ganz tolle Band! Wir machen seitdem eine Art Austausch. Wir spielen mit Farben Lehre in Polen und sie kommen mit uns mit nach Österreich oder Deutschland. Bei „Keine Angst“ (im Original „Terroristan“) haben wir live immer den Refrain mitgesungen. Der heißt im Original auch „Ich habe keine Angst...“ nur eben auf Polnisch. Textlich sind die beiden Stücke aber nur ähnlich und auch musikalisch haben wir den Song etwas verändert, ohne aber den ursprünglichen Charakter dabei zu zerstören.
„Ich bin dafür“ klingt textlich schon fast ironisch. Ist das mehr als Stinkefinger in Richtung von Leuten gedacht, die in Punkbands auch nur einige weitere Mauler sehen oder doch mehr als Aufforderung wirklich mal den Allerwertesten hoch zu bekommen?
Es ist beides, aber in erster Linie der Aufruf sein eigenes Tun zu hinterfragen. Es muss ja nicht immer gleich jeder zum Revolutionär werden, aber etwas Rebellion im Alltag darf es schon sein. Und sei es nur beim Einkauf im Supermarkt oder bei der Wahl des Stromanbieters. Hier fängt es an und wie weit man dann gehen mag, kann bzw. muss sich jeder selbst überlegen.
Ich habe selbst Verwandte in Rostock, war einmal in meiner Kindheit dort und kann mich heute nur noch an trostlose Plattenbauten und das Meer erinnern. Was verbindet Du am meisten mit Deiner Heimatstadt, etwas das Dich vielleicht zum Liederschreiben inspiriert?
Ich bin ja ein Neubaukind und habe deshalb keine so großen Schwierigkeiten mit der Platte. Ich kann mir zwar auch nicht mehr vorstellen dort zu wohnen, aber der Anblick ist mir von früher noch vertraut. Das Beste an Rostock ist natürlich das Meer. Schon allein die Luft ist an der Küste etwas Besonderes. Wir kennen natürlich auch viele Leute hier und Heimat ist nun mal da, wo man die meisten und engsten Freunde hat. Lieder kann ich am besten schreiben wenn ich unterwegs bin. Beim Autofahren zum Beispiel.
Woher nimmst Du generell Ideen für neue Songs her? Ungerechtigkeiten und Dummheiten auf der Welt gibt es sicherlich genug dafür.
Ich gehe mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. Oft sind es kleine Geschichten, die ich höre oder lese, die mich zu einer Textidee bringen. Manchmal reicht es schon die Nachrichten zu sehen, oder Zeitung zu lesen. Es ist ganz unterschiedlich.
Welche Songs und Texte liegen Dir auf Gibt Acht! besonders am Herzen?
Mir sind eigentlich immer die Songs am wichtigsten, bei denen wir versuchen neue Wege zu gehen. „Danke“ und „Ich bin’s“ zum Beispiel sind so Stücke, bei denen wir uns kurz gefragt haben, ob wir so etwas überhaupt machen dürfen. Ich fand es schon immer gut, dass wir uns solche Ausflüge erlauben, aber es ist natürlich schon so, dass wir dann etwas aufgeregt auf die Reaktionen warten. Man weiß ja nie, ob solche Lieder von unserem Publikum angenommen werden.
Diskografie | Fasching in Bonn (1992)
Auge um Auge (1992)
6 Track Split (EP, 1995)
Nimm drei (1996)
Strahlen (1998)
Hallo Erde (Single, 1998)
Delikat - 11jahrebühnenjubiläum 88-99 (Live, 1999)
Und jetzt? (EP, 2001)
Halt mich fest (2001)
Roggen Roll (Live, 2002)
Meer Roggen Roll (Live, 2003)
Tooth for Tooth (2004)
Fortschritt (2005)
Drei Live (DVD, 2006)
Singles (2007)
20 Jahre Dritte Wahl (DVD, 2008)
20 Jahre, 20 Songs (Live 2009)
Gib Acht! (2010) |
| Ihr seid ja fast pausenlos live unterwegs. Schleicht sich da nicht irgendwann eine gewisse Routine ein und man ist unterbewusst versucht, seinen Stiefel einfach nur noch so runterzuspielen, bzw. fühlt man sich nicht irgendwann nur noch als musikalischer Dienstleister? Wie vermeidet man das?
Wir sind sehr gute Freunde und wir haben immer noch viel Spaß daran, zusammen loszufahren. Klar, die Songs gehen uns leichter von der Hand, weil wir gut eingespielt sind und ziemlich genau wissen was wir tun, aber Routine bemerke ich bei uns noch nicht. Die ganz große Aufregung vor den Konzerten ist einem leichten Lampenfieber gewichen. Ich finde das aber eher angenehm. Wer möchte schon länger als nötig Angst vor Prüfungen oder gar Angst vor dem Zahnarzt empfinden? Ich kann immer noch sagen, wir freuen uns auf jedes Konzert!
Wie Du im Konzert in Augsburg erwähnt hast, hast Du die Dreißiger bereits hinter Dir gelassen, was ihr auch auf witzige Art verarbeitet habt. Aber macht man sich da in der Tat nicht einmal Gedanken, wie lange man die Energie für diese Art von Musik aufbringen kann, ohne irgendwann lächerlich zu wirken?
Das ist eine schwierige Frage. Ich hoffe sehr, dass wir den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem wir an der Reihe sind aufzuhören. Dieser Moment wird sicherlich kommen, liegt aber hoffentlich noch in weiter Ferne. Ich fühle mich noch ganz agil und die 4 vorne ist eine abstrakte Zahl. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich natürlich, dass ich nicht mehr 20 bin. Mein größter Sohn hat gerade die Schule abgeschlossen und es wäre nun wirklich Zeit für mich erwachsen zu werden, aber wie? Oder bin ich es längst, nur eben anders? Ich mache mir nicht so viele Gedanken über die Zukunft. Es ist nur eines sicher, sie wird kommen!
Beim letzten Inteview vor rund einem Jahre hast Du von einem bevorstehenden Konzerttrip nach Kuba erzählt. Eine nicht ganz alltägliche Geschichte. Wie war es dort zu spielen und welche Eindrücke habt ihr aus diesem kommunistischen Land mit nach Hause genommen?
Kuba war eine tolle Erfahrung. Ich war vorher noch nie so weit weg von zu Hause und Langstreckenflüge werden sicher nicht zu meinem zweiten Hobby. Aber diese Reise war wunderbar. Kuba ist ein Land mit vielen Gegensätzen. Zum einen sehr schöne Landschaften, nette Menschen, coole Musik, uralte Autos usw. Und zum anderen aber auch Mangel, Verfall, Polizeischikanen und viel Improvisation. Wir haben auf unserer Seiten einen Bericht über diese Reise erstellt. Wer sich interessiert kann sich hier mal einen Eindruck verschaffen.
Konzerte auf einer Karibikinsel und auf einem Schiff - an welchen besonderen Plätzen oder in welchem außergewöhnlichen Rahmen würdest Du gerne mal auftreten? Doch wohl nicht irgendwann der obligatorische Unplugged-Auftritt?
Wir haben auf dem Schiff schon einmal fast unplugged gespielt und das hat sehr viel Spaß gemacht. Es war toll zu sehen und zu hören, dass unsere Songs auch mit wenig Dampf funktionieren. Vielleicht machen wir mal eine kleine Tour mit dem Programm. Das geht natürlich nicht zu dritt. Da brauchen wir etwas Hilfe. Aber ich denke das wäre schon cool. Das würde ich sehr gern mal machen. Ferne Ländereien reizen mich nicht allzu sehr, aber wenn sich was ergibt, sind wir sicher dabei.
Wie geht es weiter mit Dritte Wahl - noch mehr Konzerte, noch mehr Platten? Ich hoffe, wir müssen keine weiteren fünf Jahre auf die nächste warten!
Wir haben noch keine festen Pläne für die Zukunft. Wir freuen uns erst einmal darauf, die neuen Songs live zu spielen und alles andere findet sich dann mit der Zeit. In unserem Alter macht man ja keine großartigen Pläne mehr! (lacht)
Mario Karl
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