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Reviews
Walter Mossmann

4 CD Box


Info
Musikrichtung: Liedermacher

VÖ: 12.07.2004

(Trikont / Indigo)

Gesamtspielzeit: 281:57


In den 70er Jahren entwickelte sich im Umfeld des Widerstandes gegen die Atomindustrie eine ganz eigene Graswurzelkultur. Nachdem diese widerstehende Kultur Teil des politischen Establishments mit den Grünen als parlamentarischer Stimme geworden war, glich sich auch das Musikprogramm dem Mainstream an. Rock- (BAP) und Pop-Bands (Bots) waren Dauergäste auf den Bühnen der Friedens- und Anti-Atom-Demos. Vorher prägte die mittlerweile fast ausgestorbene Spezies des Liedermachers das kulturelle Beiprogramm des Widerstands. Ähnlich wie in den USA bedienten sich Sänger und Bands bei der Folk- und der Volksmusik und entdeckten so oft regionale europäische Kulturgeschichte neu. Wie zum Beispiel bei Bob Dylan war oft der Inhalt des Gesungenen wichtiger, als die Perfektion und „Schönheit“ des dar Gebotenen.

Einer der ganz großen Namen dieser Widerstandskultur, der beizeichnender Weise außerhalb dieses Umfelds kaum wahrgenommen wurde, ist Walter Mossmann. Das rührige Trikont-Label hat jetzt eine Werkschau des eigenwilligen Künstlers auf 4 CDs vorgelegt. Bis auf die „apokrüfe“ zweite Hälfte der vierten CD handelt es sich dabei ausnahmslos um Auszüge der veröffentlichten Mossmann-Alben. Ganz nebenbei erhält der Zuhörer einen Überblick über fast 20 Jahre politische Kultur in Deutschland mit Schwerpunkten in der APO-Zeit und der Anti-Atomkrafts-Bewegung, die wie in Mossmanns Liedern überdeutlich wird, viel mehr als eine Anti-Bewegung war. “Lied vom Lebensvogel“ heißt sein Gorlebenlied bezeichnenderweise. Und gerade in den Skizzen vom Leben auf besetzten Bauplätzen, die zu den Kernstücken seines Oeuvres gehören, erkennt man einen kreativen alternativen Lebensstil. Hier lebte die Vision eines anderen Lebens, als dem des homo industrialiticus, eine Vision, die der Anti-AKW-Bewegung, die eigentlich eine Lebensstilbewegung ist, den langen Atem gab, der sie bis heute am Leben erhält.

Aber beginnen wir am Anfang. Chansons enthält neun der 11 Songs von Mossmanns Debüt Achterbahn (1966), sowie acht Stücke des Nachfolgers Große Anfrage. Musikalisch sind Anklänge an Franz-Josef Degenhardt, die sich im Laufe der Jahre verflüchtigen vor allem in der ersten Hälfte überdeutlich. Mossmann singt, spricht oder singspricht aus der Perspektive von unten. Seine Lieder auf dem Debüt sind erkennbar Arbeiterlieder. Der sozialistische Dogmatismus, bzw. die klassenkämpferische Sprache, die sich in der APO-Zeit manifestiert, sind allerdings noch nicht beherrschend. Statt Parolen begegnen hier persönliche Betrachtungen der Zustände bei den Menschen, die sich am unteren Ende der politischen Machtpyramide befinden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die scharfe Kritik am „real existierenden DDR-Sozialismus“ in “Roter Oktober 1967“.

In der historischen Abfolge gehört an diese Stelle der Live-Mitschnitt von 1969, der auf CD 4 (Track 5 – 10) enthalten ist. Es sind bislang unveröffentlichte Songs aus der APO-Zeit, klassenkämpferische Agitation zur Wandergitarre vorgetragen. Wer die studentenbewegte Luft der Frankfurter und Berliner UNI-Hörsäle erleben will, in der unsre politische Doppelspitze Schroeder-Fischer politisch sozialisiert wurde, dürfte hier recht gutes Anschauungsmaterial haben.

Fünf bzw. sieben Jahre später hat sich die politische Landschaft gewandelt. An der Oberfläche ist das politische Leben Deutschlands zur Ruhe gekommen. Aber es gärt. Im beschaulichen Whyl im Dreiländereck Deutschland-Schweiz-Frankreich soll ein Atomkraftwerk gebaut werden. Im niedersächsischen Wendland plant man bei Gorleben – quasi auf einer geographischen Landzunge, die sich tief in die DDR hineinbohrt – ein Endlager für radioaktiven Müll. Die Angst vor den möglichen Folgen der riskanten Groß-Technologie schweißt eine vorher kaum Koalition zusammen. Bauern und Studenten, Hausfrauen und Wissenschaftler, Heimatverbundene Greise und jugendliche Aussteiger vereint der Wunsch der scheinbar allmächtigen Koalition von Wirtschaft, Geld und Politik in den weg zu treten.

Dabei entsteht nicht nur eine neue politische Kraft, die so anders ist, dass keine der etablierten Parteien in der Lage ist, sie zu integrieren. Bauplätze werden besetzt, BI-Läden eröffnet und neue phantasievolle politische Aktionsformen erfunden und erprobt. Eine Form für das gemeinsame Leben der unterschiedlichen gab es noch nicht. Vieles wird angedacht, ausprobiert, spielerisch gelebt und unter dem Bewusstsein der politischen Verantwortung mit großem Engagement und Ernst vorangetrieben. In diesem kulturellen Biotop entstehen die beiden Flugblattlieder-Alben von 1975 und 77, von denen die Stücke der zweiten CD stammen. „Passend“ zu den Texten der LPs ereignete sich im Sommer 1976 der Chemieunfall im italienischen Seveso, wohl die größte Umweltkatastrophe vor Tschernobyl.

Mossmann äußerst unterschiedlich. Der Liedermacher übt sich oft in extrem schrägen Tönen, die fast schmerzhaft klingen und so die politischen Angriffe akustisch illustrieren. So z.B. das bösartige “Stoltenberglied“ oder das fast unerträglich dramatische “Lied vom leistungsgerechten Tod“. Daneben gibt es aber auch eingängige Mitsing- bzw –Gröhl-Songs, wie den “KKW Nein Rag I“. Lieder wie diese gaben – von Tausenden mitgesungen - Demonstrationen und Kundgebungen oft das nötige verbindende Band.
Auf die neue politische Kultur von unten reagierte man oben argumentativ hilflos mit politischer Unkultur. Mit Berufsverboten versuchten sich die Regierenden den politischen Gegner vom Leib zu erhalten. Ich erinnere mich noch an das plötzliche Verschwinden eines engagierten Deutschlehrers, als ich in der fünften oder sechsten Klasse war – ein Vorgang, bei dem ich mir damals (1974/75) wenig gedacht habe, den ich wohl auch noch nicht richtig begriffen hätte. Mossmann spiegelt die Berufsverbotspraxis mit Stücken wie “Sieben Fragen eines Schülers“ und “Lied von der Gedankenfreiheit“ wieder.

Die Live-CD “Frühliungsanfang“ von 1979 und das folgende Album “Hast Du noch Hunger“ (1981) liefern das Material von CD 3. Was vier Jahre vorher in „Spinner-Kommunen“ am Rande der Gesellschaft stattgefunden hat, ist zu einem Flächenbrand geworden. Beim Kirchentag 1981 in Hamburg schließen radikale Pazifisten und Rüstungsgegner erstmals einen Bund mit dem bisher in der Regel eher konservativ geprägten Kirchenvolk (zum großen Unbehagen der Kirchenoberen. Aber auch das legt sich in den kommenden Jahren.) Mehr als Hunderttausend Besucher des Kirchentags formieren sich am Samstag zum Demonstrationszug durch die Hamburger Innenstadt. Zwei Jahre später wird sogar der Abschlussgottesdienst des Kirchentags im Hannoverschen Niedersachsenstadion von den lila Tüchern mit der Aufschrift “Es ist Zeit für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen!“ dominiert sein.
Musikalisch wird Mossmann etwas harmonischer und glatter. Seinem Thema aber bleibt er treu. Whyl und Gorleben werden besungen. Im “Liebeslied auf 101 Megaherz“ wird der subversiven Kulturarbeit illegaler Radiosender ein Denkmal gesetzt. Auch der Radikalenerlass gegen politisch unkonforme Menschen wird noch einmal kommentiert (“Lied für meine radikalen Freunde“). Aber Mossmann wirft den Blick auch weiter und in die Geschichte zurück. Vergleiche zwischen Deutschland und dem (damals) linken Italien (“Valpoicella“) werden gezogen und die Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus gesucht (“Ballade von Jaime“, „Ballade vom toten Matrosen“).

Im Booklet zur CD 4, die außer dem oben schon erwähnten Live-Mitschnitt von 1969 die komplette LP Wechselbad/ Unruhiges Requiem (1983) enthält, beruft sich Mossmann explizit auf den sizilianischen Sänger Cicciu Busacca. Der Sänger/ Erzähler/ Agitator bearbeite sein Publikum “gegen alle Regeln der Kunst, mal erzählend, mal singend, mal tragisch-pathetisch oder parodierend-psalmodierend … “, erklärt er. Einen Ansatz, den man auch bei Mossmann schon erkennen konnte. Jetzt reizt er ihn aus – in Stücken, die auch über 20 Minuten lang sein können.
Sperriger unzugänglicher verarbeitet er weiter seine Lebensthemen. Aber das Publikum dafür dürfte er weniger auf dem Bauplatz oder der Demo finden, sondern eher bei einem intellektuellen Publikum im Wohnzimmer. Das entsprach wohl durchaus dem Zeitgeist. Die Epoche der Großdemos ging ihrem Ende zu – ebenso wie das Genre der Liedermacher.

Wie bei Trikont üblich gibt es zu den CDs, die als Digi-Packs in einer Pappbox ausgeliefert werden, vorbildliche Booklets mit Hintergrund und Kommentar zu jedem einzeln Text. Der ist aufgrund des häufig sehr starken Zeitbezugs der Texte oft auch sehr nötig. Ausführlich wird beschrieben auf welche Ereignisse oder Personen sich Texte und Textzeilen beziehen.



Norbert von Fransecky



Trackliste
CD 1: Chansons
1 Survivor's Song (3:32)
2 Die drei Gammler (3:56)
3 Renitent (4:26)
4 Morgendliches Plädoyer für Gewürztraminer (3:36)
5 Weihnachtslied 1966 (4:13)
6 Milch der frommen Denkart (2:26)
7 Gin and Tonic (5:00)
8 Hafenrevue (3:38)
9 Taube in Grün (3:26)
10 Große Anfrage (5:09)
11 Roter Oktober 1967 (2:58)
12 Meine Provinz (5:22)
13 Ich schau mein Foto an (2:39)
14 Der Wandermusikant (3:06)
15 Pik Sieben (4:13)
16 Die Hunde von Pamplona (4:24)
17 Schahmatt (5:14)


CD 2: Flugblattlieder
1 Sieben Fragen eines Schülers (5:14)
2 Lied vom Betriebsfrieden (4:06)
3 KKW Nein Rag I (3:04)
4 Lied von der Gedankenfreiheit (4:37)
5 Ballade vom Hexenhammer (6:28)
6 In Mueders Stübele (2:48)
7 S'Bruckelied (2:31)
8 Ballade von der unverhofften Last (5:30)
9 Ballade von Seveso (4:34)
10 Lied vom leistunsgerechten Tod (3:55)
11 Poder popular (4:29)
12 Ballade vom zufälligen Tod in Duisburg (5:37)
13 Lied außen vor der Mauer (5:06)
14 Stoltenberglied (3:37)
15 Der neudeutsche Zweifache (3:09)
16 Der KKW Nein Rag II (3:37)

CD 3: Balladen
1 Lied für meine radikalen Freunde (5:26)
2 Ballade von Jaime (5:43)
3 Lied für die Sheba - Momentaufnahme I (5:39)
4 Ballade von der Rentnerin Anna Mack (6:08)
5 Liebeslied auf 101 Megahertz (5:35)
6 Ballade vom toten Matrosen (4:01)
7 Shtil die Nacht iz ojzgeshternt (1:47)
8 Lied vom Lebensvogel - Gorleben (7:33)
9 Valpolicella (4:34)
10 Sense - Momentaufnahme II (3:34)
11 Chriesezytt (5:31)
12 Krönungszug Lothars des Erstbesten (7:46)
13 Wahrheitsgetreu gefälschte Erinnerung (3:13)
14 Companero Hugo Riveros (5:27)
15 Lied vom Kormoran (3:46)

CD 4: Cantastorie apokrüfen
1 Romanze der Johanna Arg (7:58)
2 Fehlanzeige (9:51)
3 Serenata serena (4:15)
4 Unruhiges Requiem (20:20)
5 Auch nach dem zweiten Juni (4:32)
6 Die neuen Jakobiner (4:05)
7 Ihre Gewalt und die unsere (3:35)
8 Lied vom goldenen Buch (7:18)
9 Großvater Jakobs rote Fahne (6:47)
10 Im Wartesaale wartend (4:23)

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