750 Brücken ins Progressive: Patrick Gläser läßt die Jehmlich-Orgel in Oberlungwitz rocken




Info
Künstler: Patrick Gläser

Zeit: 08.09.2023

Ort: Oberlungwitz, Evangelische Kirche St. Martin

Internet:
http://www.orgel-rockt.de

Bisweilen treffen zwei sozusagen progressive Strömungen aufeinander. Da steht in der Martinskirche in Oberlungwitz, einer kleinen Stadt zwischen Chemnitz und Zwickau im schönen Sachsenland, eine dreimanualige Jehmlich-Orgel aus dem Jahr 1931, deren Zustand trotz in der Zeit um die politische Wende ausgeführten Reparaturen und Umbauten in den Folgejahrzehnten nicht eben besser wird, so dass sich nach einer grundlegenden Kirchenrenovierung auch eine abermalige Sanierung der Orgel notwendig macht. Diese Gelegenheit nutzt man aber gleich für eine technische Weiterentwicklung: Der Spieltisch wird, vom Tastenapparat abgesehen, stillgelegt und die komplette technische Steuerung auf einen Setzer übertragen, der in einem kleinen Holzkasten rechts neben dem Spieltisch untergebracht ist und seine Signale nach hinten gibt, wo sie dann wieder in traditioneller Weise in Gestalt des Pfeifen- und sonstigen musikalischen Apparates umgesetzt werden – es ist also keine elektronische Orgel mit künstlichem Klangerzeuger daraus geworden, sondern eine Pfeifenorgel geblieben, aber eben mit erweiterten elektronischen Komponenten. Solche Setzeranlagen gibt es zwar bereits seit Jahrzehnten, aber hier baut der Orgelbauer Georg Wünning anno 2017 eine Speziallösung ein, die in einem Gemeinschaftsprojekt des Hermann Eule Orgelbau Bautzen mit der Fachhochschule Mittweida entwickelt worden ist – also wieder ein Fortschritt im jahrhundertealten Gewerbe des Orgelbaus.
Für einen ähnlichen Fortschritt steht Patrick Gläser. Der hatte vor anderthalb Jahrzehnten die Idee, Rock-, Pop- und Filmmusik auf traditionellen Pfeifenorgeln zu spielen, was in dieser Form und dieser Konsequenz vor ihm noch keiner gemacht hatte. So erschloß er der „Königin der Instrumente“ nicht nur neues Repertoire, sondern auch neue Anhängerschichten – zu seinen Konzerten kommen zahlreiche Besucher, die sich vermutlich selten bis nie in ein „klassisches“ Orgelkonzert verirren würden. Sieben Programme hat Gläser bisher in jeweils mehrjährigen Touren in Deutschland und den angrenzenden Ländern vorgestellt, das siebente gibt es an diesem Freitagabend auch in Oberlungwitz zu hören. Trotz einer ungünstigen Terminkollision – der Empfang des Bürgermeisters zum 750jährigen Jubiläum der Kommune fällt genau auf diesen Abend – ist die Kirche sehr gut gefüllt: 350 Besucher muß man für ein Orgelkonzert erstmal zusammenbekommen, und der Umstand, dass an diesem Wochenende diverse Feierlichkeiten zum genannten Ortsjubiläum stattfinden, hilft dabei zweifellos, da offenkundig etliche frühere Oberlungwitzer aus diesem Anlaß wieder mal in der alten Heimat sind und sich das Konzert nicht entgehen lassen wollen.
In Oberlungwitz hat Gläser noch nie gespielt, wohl aber bereits im direkt benachbarten Gersdorf – trotzdem kommen auf die Frage, wer ihn schon mal live erlebt hat, nur erstaunlich wenige Handzeichen. Das soll freilich nicht bedeuten, er habe damals etwa vielleicht nicht überzeugen können – der Rezensent war zwar in Gersdorf nicht dabei (sondern lediglich anno 2016 auf Tour 4 in Hartha), aber ein kompletter Reinfall mit in Scharen „Nie wieder!“ denkenden Besuchern dürfte kaum wahrscheinlich sein. Tour 7 ist jedenfalls mit „Hoffnung“ überschrieben und hebt nach einigen einführenden Worten mit Bon Jovis „Keep The Faith“ an. Der Rezensent sitzt fast genau gegenüber der Orgel nahe des Kanzelaltars und hat damit offenkundig einen akustisch nahezu idealen Platz erwischt, wie sich schon im Opener erweist. Gläser verzichtet hier noch auf die ganz strahlenden Prinzipale, erweist sich aber schnell als Meister der versatilen Registerverteilung zur Offenlegung der polyphonen Strukturen, ohne dabei das Gesamtklangbild außer acht zu lassen – und der Rezensent darf sich an seinem Platz über ein hervorragend durchhörbares, gleichermaßen powervolles wie transparentes Klanggewand freuen, in dem besonders die strukturgebenden schnarrenden Baßregister aus dem Pedal wichtige Funktionen erfüllen. Damit hat der Organist praktisch gewonnen und zieht sich auch in den folgenden anderthalb Stunden fast durchgehend glänzend aus der Affäre. Filmmusik nimmt wieder einige markante Plätze im Programm ein – so geht es gleich mit Stoff von Hans Zimmer weiter, nämlich aus dem Film „Interstellar“. Meist alle zwei Songs ergreift Gläser zudem das Wort (das dank Mikrofonierung auch problemlos verständlich ist) und erläutert Hintergründe zur Auswahl der Stücke: Billy Joels „Leningrad“ beispielsweise ist als eine Art Fortsetzung von Stings „Russians“ aus Tour 6 zu verstehen und wird mit der Message, für Hoffnung brauche es bisweilen einen Perspektivwechsel, verknüpft. In einigen Nummern, etwa „Schön genug“ von Maly oder „Mut“ von Alexa Feser, singt der Organist auch noch – eine Aufgabe, die nicht ganz einfach zu lösen ist, denn die Boxen, über die die Mikrofonierung und damit auch der Gesang läuft, stehen vorn im Altarraum, während die Orgeltöne ja hinten aus den Pfeifen kommen. Das dann synchron hinzubekommen verlangt einen Könner, aber dass Gläser ein solcher ist, sollte bereits deutlich geworden sein. „Far From Over“ von Frank Stallone aus dem Film „Staying Alive“ (für den die Bee Gees den fast identisch benannten Titeltrack beigesteuert hatten, der aber an diesem Abend nicht in der Setlist auftaucht) zeigt, dass die Orgel gewisse Grenzen hat, was die Möglichkeiten schneller Tonrepetitionen betrifft (irgendwann ist die Traktur halt am Ende ihre Leistungsfähigkeit), diese Grenzen aber doch ziemlich weit oben liegen.
Spielt Gläser in den neuen Bundesländern, peppt er die Setlisten bisweilen noch mit alten Ostrocknummern auf. Karussells „Als ich fortging“ wird nicht mit Titel angesagt, sorgt aber für erregtes Geflüster im Publikum, als man die markante Melodie erkennt, die durch verschiedene Flötenregister geschickt wird und wo man sich nicht sicher ist, ob man den wunderbar schwingenden Grundrhythmus loben oder das Tempo vielleicht doch einen Tick zu schnell finden soll – aber das Publikum entscheidet sich klar für die positive Option, wie der bisher lauteste Beifall beweist. Enorm schwierig umzusetzen sind hingegen bestimmte Teile von „Smoke On The Water“, und auch da stößt Gläser an Grenzen – aber allein schon die Methode, die HiHat-Einsätze in Orgelregister zu übersetzen, geht als Geniestreich durch. „Who Wants To Live Forever“ wird als einzige Nummer überhaupt nicht angesagt, fährt aber musikalisch gleich die nächsten Geniestreiche auf, zunächst mit schnarrend-warmem Klanggewand, sich später in prinzipalgekrönten Bombast steigernd. Mit dem knackig-kurzen „Spirits“ steht auch eine Eigenkomposition Gläsers im Set, die schon in mehreren der sonst immer fast komplett ausgetauschten Programme aufgetaucht war, bei „Hey Jude“ darf das Publikum sowohl mitsingen als auch mitklatschen, und „das Schlußlied“ wird dann wieder ohne Titel angesagt, nur mit dem Hinweis, dass es einen Brückenschlag zwischen Ost und West beinhalte. Das stellt natürlich einen Wink mit dem Zaunpfahl dar, denn es kommt „Über sieben Brücken mußt du gehen“ aus der Feder des erst wenige Wochen zuvor verstorbenen Ulrich „Ed“ Swillms. Gläsers Version an diesem Abend ist nur fast zu zügig (nur fast!) und allemal für eine meterdicke Gänsehaut gut – lauter Jubel und Standing Ovations machen klar, dass auch der Rest des Publikums offensichtlich sehr angetan von der Umsetzung ist.
So bleiben Zugaben natürlich nicht aus: „Nothing Else Matters“ taucht auch in mehreren Tourprogrammen auf, war das erste Stück dieser Art, das Gläser damals auf die Orgel übertrug, und ist mit seinen Soli auf kleinfüßigen Flötenregistern auch an diesem Abend nur noch als genial zu bezeichnen – die Stimmung des Originals trifft der Organist hier genau. Mit der abermals knackig-kurzen „Fluch der Karibik“-Nummer „He’s A Pirate“ gibt es noch einen Hit obendrauf, ehe ein erstklassiges Konzert endet, das wieder einmal bewiesen hat, was man mit Ideenreichtum und Mut an (für viele) überraschenden Wirkungen erzielen kann.

PS: Da Patrick Gläser im Laufe des Sets das Publikum um Vorschläge ersucht hatte, welche Titel mit DDR-Background er in seine nächsten Programme als Bonbons für die Gigs im Osten aufnehmen soll, hier ein paar Ideen: „Dshigiten-Legende“ von Babylon, „Sing, mei Sachse, sing“ (das ist natürlich nur in einem ganz bestimmten der neuen Bundesländer spielbar), „Wär mein Leben programmierbar“ von Formel 1, „Weißes Boot“ von den Roten Gitarren und – eine immense Herausforderung – „Der Albatros“ von Karat.


Roland Ludwig



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