Wir sind die Champignons: Kuhn Fu beim Jazzklub Altenburg
„Es dauert noch ein bißchen, wir hatten gerade eine Lieferung aus Wuhan“, frotzelt Jörg Neumerkel, Chef des Altenburger Jazzklubs, als das bestellte Asia-Essen für die Band endlich geliefert wird – deutlich nach 20 Uhr, dem nominellen Startpunkt für das Konzert. Die Anwesenden stört die Verspätung freilich eher wenig, handelt es sich doch um das erste größere Indoor-Konzert des Jazzklubs seit Ausbruch der Pandemie, und da gibt es genug Gelegenheit für die Geimpften oder Genesenen zum Klönschnack, auch wenn 2G offenbar doch einen Teil der Zielgruppe abgeschreckt hat und daher etliche Plätze leer bleiben. Aber 3G hätte bedeutet, dass mit der Abstandsregelung nur 17 Personen in den Raum hineingedurft hätten, was völlig witzlos gewesen wäre. Kuhn Fu zählten strukturell in Altenburg zu den besonderen Leidtragenden: Ihr Auftritt war nämlich eigentlich im Frühjahr 2020 geplant gewesen, aber da rollte dann die Pandemie schon an, und auch der zunächst anberaumte Ersatztermin im Herbst 2020 konnte wegen der nächsten Welle nicht stattfinden. Der dritte Anlauf klappt nun endlich, die Band beeilt sich beim Essen – und am Konzertende stellt man bei der Analyse der Setlist fest, dass die wohl deutlich anders ausgefallen ist als die, die man vermutlich im Frühjahr 2020 gespielt hätte. 2019 war das dritte Studioalbum Chain The Snake erschienen (und hatte hier bei MAS von Wolfgang G. stolze 17 Punkte eingesackt), und so dürfte damit zu rechnen gewesen sein, dass der 2020er Auftritt sozusagen zentral zur Promotion dieses Albums genutzt worden wäre und mehr von seinen sieben Songs in der Setlist gestanden hätten als „nur“ die zwei, die es an diesem Herbstabend in Altenburg zu hören gibt, nämlich „Marco Messy Millionaire“ und „Oswaldo’s Waltz“. Zieht man des Weiteren in Betracht, dass der Zweitling Kuhnspiracy lediglich mit „Mono Industrial Post Depression“ und das Studiodebüt Kuhnstantinopolis mit „Nosferatu“ und „Mephisto“ (und einem ungeplanten Track) vertreten ist, die Setlist aber insgesamt 12 (bzw. 13) Positionen umfaßt, wird klar, dass Kuhn Fu den Gig, der eine reichlich einwöchige Minitour abschließt, zum intensiven Erproben und/oder Entwickeln neuen Materials genutzt haben, wobei die Gelegenheit dahingehend günstig war, dass sie zwei Day-Offs innerhalb dieser reichlichen Woche gleich nutzten, um in Berlin einige Studioaufnahmen anzusetzen. Dass das Material zumindest teilweise noch im Stadium des „work in progress“ ist, zeigt zum einen der Aspekt, dass bei einigen neuen Stücken tatsächlich aus Notenheftern gespielt wird (im Jazzrock!), und zum anderen eine Szene nach dem Gig: Bandkopf Christian Kühn schreibt für den Rezensenten die Setlist auf, und währenddessen fällt ihm ein Alternativtitel für das neue Stück „The Fisherman“ ein, sozusagen als Weiterentwicklung seiner Ansage im zweiten Set – und der Interessent darf gespannt verfolgen, ob sich der neue Einfall „Marcel de Champignon“ durchsetzen wird oder es doch bei „The Fisherman“ bleibt. Die, ähem, eigenwilligen Ansagen im Deutsch-Englisch-Mischmasch gehören natürlich auch zum Konzept der Band, das stilistisch mit dem einprägsamen Terminus „Paranoide Prog-Punk-Jazz-Performance“ umschrieben wird. Vom Liveeindruck her kann man das Ganze am ehesten im Jazzrock einsortieren, aber die vier mit P beginnenden Worte besitzen durchaus auch ihre Daseinsberechtigung. Im Paul-Gustavus-Haus spielt dabei die Quartettbesetzung, die auch auf Chain The Snake zu hören ist – es gibt auch voluminösere Inkarnationen der Band, etwa ein Sextett, aber das wäre auf der Bühne nur mit allergrößter Mühe unterzubringen gewesen. Der Vierer ist dabei international zusammengesetzt:
Neben dem Bandkopf aus Köln spielen ein englischer Drummer, ein türkischer Bassist und schließlich ein Israeli am Blasinstrument. Das sieht von ferne aus wie ein Saxophon mit etwas amorpher Form, entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber als Baßklarinette, womit eine interessante und originelle Klangfarbe ins Spiel kommt: Klarinetten bringt ja beispielsweise Marek Arnold bei seinen diversen Prog-Truppen gern mal zum Einsatz, aber eine riesige Baßklarinette hat zumindest der Rezensent bei ihm noch nicht im Einsatz erlebt. Was da klanglich zu erwarten ist, macht gleich der Opener „NO1“ klar: Das wüste Klanglandschaftenintro kommt ohne nachvollziehbare Rhythmen aus, bevor sich dann tatsächlich ein „richtiges“ Hauptthema herausschält, das immer noch in schrägsten Taktarten daherkommt und auch in solchen weiterverarbeitet wird, aber klarmacht, dass der Wahnsinn hier durchaus mit System zelebriert wird. Geht das Quartett intensiver rockend zu Werke, springt einem schon hier der Name King Crimson ins Hirn, und das soll nicht das einzige Mal bleiben. Bassist Esat bearbeitet seinen Kontrabaß zunächst mit dem Bogen, später zupfend, und irgendwann schält sich sogar noch ein klassischer Viererbeat heraus, auch wenn man sich anstrengen muß, um den nachzuvollziehen. Christians Gitarre ist im Soundgewand zunächst etwas unterrepräsentiert, was sich bei den Folgesongs aber zugunsten von mehr Ausgewogenheit und klarerer Durchhörbarkeit wandelt – dass er nicht nur kompositionsstrukturell, sondern auch soundwahltechnisch äußerst originelle Ideen entwickelt, hört man allerdings schon hier: Als Ziv mal nicht in sein Instrument bläst, klingt die Gitarre plötzlich wie ein Saxophon oder eben eine Klarinette ...
Damit ist der Weg bereitet, den nach diesem Song-Neuling auch das alte „Nosferatu“ beschreitet. Hier gibt es eine klassische Terrassendynamik mit Exzelsior-Effekt, Ziv zitiert mal ganz kurz Chatschaturjans Säbeltanz, nach dem großen Zusammenbruch gibt es beinahe Kuschelsound, bevor Ziv sein Instrument wie einen trötenden Elefanten klingen läßt – ja, und dann endet der Song plötzlich: Christians Gitarre hat einen Saitenschaden und muß repariert werden. Der Chef fordert seine Mitmusiker auf: „Play a song without me, maybe it sounds even better!“ Die drei gehen tatsächlich auf den Vorschlag ein und intonieren „Moondog Carnival“ zunächst als Trio. Der angeblueste Slowgroover läuft auch in dieser reduzierten Fassung gut rein, wenngleich die Gitarre sich nach ihrer Rückkehr kurz vor Schluß noch mit der Klarinette zu interessanten zweistimmigen Harmonien findet, die anfangs natürlich fehlten, sofern es sie dort denn planmäßig gegeben hätte, was nur die (vermutlich wenigen) anwesenden Kenner der Studioversion beurteilen könnten. Den größten Eklektizismus fährt „Marco Messy Millionaire“ auf. Speed, Doom, Folkelemente, Vokalisen (von Christian und Esat), ein metalgitarrenheldenkompatibles Solo – und irgendwie paßt das auch noch alles zueinander. Deswegen geht es mit „Oswaldo’s Waltz“, zweiter und auch letzter Beitrag des jüngsten Albums, gleich so innovativ weiter, wobei Esat hier an eine Baßgitarre wechselt (bei der er bis kurz vor Konzertende dann auch bleibt) und voluminösen Spacesound erzeugt, unterstützt durch tinnitusartige Geräusche von den Becken – also eine andere Sorte Innovativität. Im folgenden „6/8“ (vermutlich ein Arbeitstitel) erklingt dann wieder feister Rock, der sich, als die Klarinette mal schweigt, kurz in Richtung einer Passage aus MSGs „Into The Arena“ bewegt (was keine Absicht gewesen sein dürfte), zum guten Ende hin aber auch noch in Funkrockgefilde abdriftet, nachdem Ziv Passagen eingeworfen hat, die wie das Klanggewirr in Grauzones „Eisbär“ anmuten. Noch mehr Schrägheit gefällig? Gerne: Der „Timpe Te Shuffle“ wird als „Semmelknödel“ angesagt, also in einem völlig anderen Kulturkreis verortet, wobei wir diesmal irgendwann in vergleichsweise straightem Metal landen, die beiden Saitenartisten wieder singen (allerdings unverständlich) und neben spacigen Gitarrensounds das eingängigste Thema des ersten Sets auffällt, das diverse Enthusiasten in der folgenden Pause noch hinten an der Bar singen. Wer vermutet, das würde im zweiten Set so weitergehen mit Eklektizismus und Schrägheit, sieht sich mal bestätigt, mal getäuscht. „Mono Industrial Post Depression“ klingt zwar nicht nach Industrial, ist aber trotzdem der bisher straighteste Song, zudem in Widerstreit mit seinem Titel durchaus mit lieblichen Elementen spielend. „Harry Sanchez“ läßt dann wieder King Crimson ins Hirn treten, ergänzt aber ein paar karibisch anmutende Elemente, u.a. Schlagzeugeffekte, die etwas an Trinidad Steel Drums erinnern. Der Folgesong – das ist der, bei dem man gespannt sein darf, wie er irgendwann mal heißt – wird mit „The next song reveals our true romantic souls“ angesagt. Ziv klingt hier freilich zunächst, als sei er kurz vorm Ersticken, aber dann entwickelt sich tatsächlich eine Art Chansonpop mit hohem Schmalzfaktor und wird auch ziemlich lange ausgespielt, ehe sich die ironische Brechung in Gestalt atonaler Attacken Bahn bricht und wildes Getrümmer in den Aufbau großer Postrockwälle mündet. „Return Of Hans Schmitz“ besitzt dann wieder Text, diesmal sogar einen akustisch verständlichen: „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8“, mehrfach wiederholt.
Dazu gibt es, jawohl, klassisches Four-on-the-floor-Feeling, und es beginnen tatsächlich einige weibliche Anwesende das Tanzbein zu schwingen. Wer schon immer mal wissen wollte, wie Eurodance klingt, wenn ihn eine richtige Band spielt (mit allem Drum und Dran, inclusive des Umz-Umz-Umz), der bekommt an diesem Abend Weiterbildung. Und weil Drummer George so Gefallen an klassischen Viererbeats gefunden hat, gibt es solche zum Abschluß im urlangen „Mephisto“ über weite Strecken gleich nochmal, diesmal mit Esat wieder am Kontrabaß, wo er abermals ein markantes und lange Zeit prägendes Thema evoziert. Dann ist Schluß – theoretisch: Die Anwesenden erklatschen sich natürlich eine Zugabe, den letzten Song dieser Tour, die hier in Altenburg endet, und zwar mit einem Quickie, dem locker groovenden und in kaum zwei Minuten schon durchs Ziel gehenden „Slacker’s Fanfare“ als letztem neuem Song. Vielleicht dauert der auf der nächsten Platte dann auch 20 Minuten – bei aberwitzigen Kreativlingen wie den vieren hier weiß man ja nie. Spielfreude en gros, Überraschungen am laufenden Band (keiner, der die Band vorher nicht kannte, dürfte nach dem ersten Set geglaubt haben, derart viel Geradlinigkeit im zweiten Set vorzufinden), überlegene Spieltechnik – Ingredienzen für einen sehr gelungenen Abend. Setlist Kuhn Fu: NO1 Nosferatu Moondog Carnival Marco Messy Millionaire Oswaldo’s Waltz 6/8 Timpe Te Shuffle -- Mono Industrial Post Depression Harry Sanchez The Fisherman a.k.a. Marcel de Champignon Return Of Hans Schmitz Mephisto -- Slacker’s Fanfare Roland Ludwig |
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