Ockeghem, J. (Rodin, J.)

Sämtliche Chansons


Info
Musikrichtung: Renaissance vokal

VÖ: 02.10.2020

(Musique en Wallonie / Note 1 / 2 CD / DDD / 2019 / Best. Nr. MEW 1995)

Gesamtspielzeit: 133:39



AUSDRUCKSEXPANSION

Eine Gesamteinspielung von Johannes Ockeghems Chansons, Liebes-Liedern zu drei bis vier Stimmen: Schwer fassbar ist diese Musik der Hochrenaissance. Die wohlklingende Kombinatorik der Stimmen kann man zwar mit „tonal gestimmten“ Ohren hören und „verstehen“. Doch die Dur-Moll-Dramatik, die sich mit dem 17. Jahrhundert durchsetzt und die Mainstream-Musik bis heute bestimmt, gibt es hier noch nicht. Die Harmonik ist modal grundiert und eher statisch; sie wird noch nicht durch die üblichen Dur-Moll-Spannungen vorangetrieben, ist aber gleichwohl nicht spannungslos. Die Stimmverflechtungen gehorchen komplizierten kontrapunktischen Regeln, das Resultat erinnert oft mehr an das organische Wachstum von Pflanzen oder ein sich langsam sich bewegendes Mobile.

In kostbar ausgestatteten Handschriften wie dem herzförmigen „Chansonnier Cordiforme“, in denen Ockeghems Kompositionen gesammelt wurden, sind in der Regel nur die Oberstimmen der Chansons vollständig textiert, die übrigen Stimmen jedoch nicht. Darum werden diese Stücke heute oft von einer Singstimme und z. B. einer Laute ausgeführt, die die unteren Stimmen zusammenfasst. Das britische Ensemble „Cut Circle“, das von Jesse Rodin geleitet wird, experimentiert jedoch mit einer rein vokalen Besetzung – ganz in der Tradition der älteren Formation „Gothic Voices“, die schon in den 1980er und 1990er Jahren gezeigt hat, dass eine solche A-Capella-Darbietung eine ungleich größere Ausdruckskraft und Farbigkeit als eine gemischte Besetzung entfalten kann. Zumal die Laute einfach nicht das gleiche Gewicht entfaltet wie eine menschliche Stimme; Instrumente reduzieren die gleichberechtigten polyphonen Stimmen meist zur reinen Begleitmusik.

Dabei geht „Cut Circle“ insoweit über die „Gothic Voices“ heraus, als die Sänger*innen die Individualität ihrer Timbres betonen und gezielt einsetzen: Nicht nur, um bestimmte Stimmverläufe und Strukturen herauszuarbeiten, sondern vor allem, um gegenläufige „Affekte“, „Kommentare“, Wechselspiele imaginärer „Personen“ oder regelrechte „Dialoge“ zu inszenieren.
Sie riskieren bei der Wahl der Mittel nicht ganz so viel wie das belgische Ensemble „Graindelavoix“, das vor allem am Klang an sich interessiert ist.
Für „Cut Circle“ ist hingegen der Ausdruck, die Poesie der Worte zentral und der Klang ein Mittel, diese zum Ausdruck zu bringen. Aber für ein britisches Vokal-Consort ist die Aufgabe eines vor allem auf Homogenität und Schönklang abzielenden Ansatzes bemerkenswert. Die Stimmen können je nach Bedarf obertönig scharf, ja gallig und schneidend klingen – und im nächsten Moment wieder laserartig fein, zart und intim. Dabei legt man ausdrücklich Wert darauf, dass die Darbietung nicht auf Kosten der kunstvollen Vorlage geht; unsauber Gesungenes wird man hier also nicht finden. Wohl aber Experimente mit expressiven Stimmfarben und Registerkontrasten, mit kleinräumigen rhythmischen und dynamischen Schattierungen.

Beim eröffnenden „Nymphe des boix“, einem Trauergesang von Josquin des Prez auf den Tod von Ockeghem, der das Programm ergänzt, zuckt man allerdings erst einmal zusammen – der Einsatz auf der ersten Silbe ist derart „krähend“, dass der Schmerz, der hier zum Ausdruck gebracht werden soll, durch Mark und Bein geht. Der komplexe fünfstimmige Satz reagiert eben doch empfindlich – auch das Ensemble „Graindelavoix“ operiert ja immer schon an einer Grenze, wo der Wille zum Klang kippen und gekünstelt wirken kann.

Glückerlicherweise nehmen sich die Sänger*innen von „Cut Circle“ in der Folge gleich wieder zurück und forcieren ihren Ansatz nicht. Transparenz und Klangkraft, emotionale Intensität und kunstvolle Durchformung des Stimmsatzes werden von ihnen überwiegend stimmig ausbalanciert. Exemplarisch sei der Trauergesang auf den Tod von Gilles Binchois genannt, der die Aufnahme mit einem Höhepunkt aus dem Schaffen Ockeghems beschließt: Dynamik- und Farbkontraste, Kontemplation und Emotion kommen hier gleichermaßen zu ihrem Recht und ergänzen sich gegenseitig im Sinne einer Ausdrucksexpansion.
Freilich ist dieses Doppelalbum nicht dazu gedacht, dass man die Chansons ohne Pause nacheinander durchhört. Jesse Rodin, der im schöne gestalteten und farbig illustrierten CD-Buch mit zahlreichen Werkkommentaren in Ockeghems Kunst einführt, empfiehlt vielmehr, jedes Stück in Ruhe mehrfach zu hören. Es ist ein bisschen wie mit dem Maßwerk oder den Glasfenstern spätgotischer Kathedralen: Je nach Licht und Perspektive ergeben sich immer neue Eindrücke. Das gilt auch für das Hören dieser subtilen Kunst, bei der Ohr mal dieser oder jener Stimme folgt.



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 63:14
CD 2 70:25

Ma maistresse; Presque transi; L'autre d'antan; Ma bouche rit; Qu'es mi vida, preguntays; Baisies moy; D'ung aultre amer; Quant de vous seul; Je n'ay dueil a 3; Les desieaulx; Tant fuz gentement resjouy; S'elle m'amera/petite camusette; Je j'ay dueil a 4; Aultre Venus; Fors seulement l'attente; Fors seullement contre/Fors seullement l'attente; O rosa bella; La despourveue; Se vostre cuer; Prenez sur moy; Ung aultre l'a; Il ne m'en chault; Mort, tu as navre/Miserere a 4
+ Desprez: Nymphes des bois/Requiem a 5

Besetzung

Cut Circle

Jesse Rodin, Leitung



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