Neal Morse
Sola Gratia
|
|
|
Prog-Bands haben überdurchschnittlich häufig anspruchsvolle Text-Konzepte hinter ihren Werken. Bei Neal Morse ist das besonders ausgeprägt. Sowohl seine Solo-Alben, wie die Alben der Neal Morse Band hatten immer ein klares Thema. Mal war das autobiographisch, wie bei seinem Solo-Debüt Testimony; mal wurde Literatur verarbeitet, wie in The Similitude of a Dream und The great Adventure, die sich beide mit John Bunyans Literatur-Klassiker Die Pilgerreise von 1678 befassen; mal wurden historische Personen beleuchtet, wie Martin Luther auf Sola Scriptura.
Sola Gratia ist nun Paulus von Tarsus gewidmet. In der Regel braucht Neal Morse für seine Konzepte Doppelalben. Dass Sola Gratia nur eine Einzel-CD ist, hat nichts zu besagen. Aber dazu später. Zuvor – für alle nicht Bibelfesten – ein kurzer Exkurs, wer dieser Paulus war.
Paulus dürfte einige Jahre jünger als Jesus gewesen sein. Kennen gelernt haben die beiden sich nicht. Als Paulus von Jesus hörte, war der bereits gekreuzigt worden. Paulus war streng gläubiger Jude, für den die Lehren Jesu ein bedrohlicher Angriff auf seinen Glauben waren. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, übernahm aber das Ehrenamt eines Offiziers der Jerusalemer Tempelwache. In dieser Funktion verfolgte er – nach damaligem Recht völlig legitim, aber nahezu fanatisch - die Anhänger Jesu. (Den Begriff Christen gab es damals noch nicht. Die Jesus-Anhänger waren eine liberale Bewegung innerhalb des Judentums.) Nachdem es ihm gelungen war, die Jerusalemer Gemeinde praktisch vollständig zu vernichten, ließ Paulus sich den Befehl geben, Selbiges auch in Damaskus zu tun. Dorthin waren führende Jesus-Anhänger – unter ihnen Petrus – geflüchtet und hatten eine lebendige Gemeinde gegründet.
Auf dem Weg nach Damaskus hat Paulus eine Vision. Jesus erscheint ihm und beruft ihn zu seinem Diener. Paulus macht eine Wendung um 180° und wird zum wichtigsten Missionar des Christentums. Er setzt sich gegen den Widerstand führender Jesus-Anhänger, unter ihnen Petrus und Jakobus, ein Bruder Jesu, durch und beginnt damit, auch Nicht-Juden, so genannte Heiden, zu Jesus zu bekehren. Das führt in der Konsequenz dazu, dass sich die Jesus-Anhänger mehr und mehr vom Judentum trennen und zu einer eigenen Religion, dem Christentum, werden.
Paulus unternimmt mehrere Missionsreisen, die ihn vor allem nach Zypern, nach Kleinasien (die heutige Türkei), nach Griechenland, durch das heutige Syrien und zuletzt auch nach Rom führen. Er bleibt dabei in ständigem Kontakt zu den von ihm gegründeten Gemeinden. In einer Vielzahl von Briefen an diese Gemeinden erläutert er zentrale Inhalte des Glaubens an Jesus Christus. Die davon erhaltenen Briefe sind die ältesten Dokumente des Christentums und heute ein zentraler Teil des Neuen Testamentes der Bibel. Stimmen, die in Paulus stärker als in dem Zimmermann Jesus von Nazareth, den Gründer des Christentums sehen, haben einige Argumente auf ihrer Seite.
Es dürfte wenige Menschen gegeben haben, die die Geschichte der (europäischen) Menschheit so stark geprägt haben wie Paulus. Mit diesem Paulus beschäftigt sich Neal Morse also nun auf Sola Gratia. Das Album endet allerdings bereits mit dem Damaskus-Ereignis. Mit anderen Worten: Der Prediger, der Missionar, der Gestalter des Christentums kommt noch gar nicht in den Blick. Morse konzentriert sich auf Sola Gratia offenkundig auf den Christenverfolger und seine Konversion zum Missionar. Von daher (s.o.) steht einem Sequel kaum etwas entgegen.
An dieser Stelle beginnt mein Problem mit dieser Rezension. Trotz mehrerer Vorstöße beim Label und den Promotern ist es mir nicht gelungen, die Lyrics zu Sola Gratia zu bekommen. Natürlich verstehe ich einiges von dem, was Morse singt, aber das genügt nicht, um ein wirkliches Verständnis dessen, was Morse sagen will, zu gewinnen. Eine wirkliche Würdigung des Albums ist daher nur bedingt möglich.
Hört man Sola Gratia nur von der Musik her, ist das Album wiederum ein tolles Prog-Album, mit dem Morse weiter in der Prog-Oberliga spielt, aber viel Neues ist hier nicht zu finden. Mal rockt er fast metallisch, mal kommt er beinahe in den Songwriter-Bereich, mal werden Jazz-Elemente eingefügt, mal wird es hymnisch, mal ist Bombast oder auch ein wenig Kitsch im Spiel. Der Mann kann es einfach!
Einige Schlaglichter:
- Der Refrain „We are the chosen Ones“ von „Ballyhoo“ erinnert stark an Queens „We are the Champions“.
- „Never change “ mit seinen sehr elegischen Gilmour-Gitarren und dem The Wall-Bombast-Ende kommt wie aus dem Floyd-Katalog.
- Sehr vielfältig kommt „In the Name of the Lord“. Nach einem ruhigen Start kommen metallisch harte Gitarren und ein weiblicher Chor. Die hymnische Ankündigung, dass man im Namen des Herrn kommt, wird von einem nicht wummernden Orgel-Solo begleitet.
- Kurz aber spannend ist das instrumentale Zwischenspiel „Sola Intermezzo“, das ruhig rhythmisch beginnt, durch ein Gitarrensolo mit lang gezogenen Akkorden fortgesetzt wird und am Ende jazz-prog-rockig aufkocht.
- Der Longtrack „Seemingly sincere“ vereint Dramatik mit blubbernden Synthies, wild drauf los powernden Orgeln und einem triumphalistischen Ende.
Morse gelingt hier erneut ein abwechslungsreiches Prog-Rock-Album auf hohem Niveau, das oft ins Metallische, und gelegentlich – wie gewohnt vor allem zum Ende hin - ins etwas zu Pathetische abdriftet. Wer auf Rock zwischen Pink Floyd und Dream Theater steht und gegen eine gelegentliche Prise Lloyd Webber nichts einzuwenden hat, liegt hier sicher goldrichtig.
Wahrscheinlich stehen Sola Gratia aufgrund des Textkonzeptes und der Präsentationsform noch 2 bis 4 Punkte mehr zu, aber dazu kann ich leider nichts sagen.
Norbert von Fransecky
Trackliste |
1 | Preface | 1:28 |
2 | Overture | 6:00 |
3 | In the Name of the Lord | 4:27 |
4 | Ballyhoo (The chosen Ones) | 2:44 |
5 | March of the Pharisees | 1:40 |
6 | Building a Wall | 5:02 |
7 | Sola Intermezzo | 2:10 |
8 | Overflow | 6:28 |
9 | Warmer than the Sunshine | 3:22 |
10 | Never change | 7:53 |
11 | Seemingly sincere | 9:34 |
12 | The Light on the Road to Damascus | 3:26 |
13 | The Glory of the Lord | 6:17 |
14 | Now I can see the great Commission | 5:18 |
|
|
|
|
|
Besetzung |
Neal Morse (Voc, Git, Keys)
Mike Portney (Dr)
Randy George (B)
Gideon Klein (Streicher)
|
|
|
|