Riot
Inishmore
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Das Quasi-Konzeptalbum The Brethren Of The Long House hatte viel Lob geerntet, und die Trennung von Langzeitmanager Steve Loeb, der für Riot gleichermaßen Helfer wie Bürde war, half offenbar, bei Mark Reale eine Kreativitätsexplosion auszulösen, an deren Ende gleich noch ein Konzeptalbum, diesmal ein „richtiges“, also mit einer Art zusammenhängender Handlung, stand: Inishmore ist der anglifizierte Name einer Insel in der Galway Bay an der Westküste Irlands, einem Areal, das von der großen Hungersnot auf der Grünen Insel in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders betroffen war, so dass dort ein besonders großer Bevölkerungsanteil entweder verhungerte oder auswanderte oder aber während der Auswanderung verhungerte. Vor diesem Hintergrund entwickelt Reale auf dem Inishmore-Album eine Liebesgeschichte, deren Ausgang unklar bleibt – der Junge zieht sich am Ende in die Hügel um Galway zurück, um dort auf sein Mädchen zu warten, von dem er nicht weiß, ob es noch am Leben ist, da er zwar Gerüchte gehört hat, sie sei gestorben, aber keine Bestätigung dafür hat und seine Hoffnung somit noch lebt.
Dass so ein Thema nach einer adäquaten musikalischen Umsetzung verlangt, bedarf keiner näheren Erläuterung. Hätten Primordial dieses Sujet vertont, wäre zwar etwas grundsätzlich Anderes herausgekommen, aber Reale beweist auf seinem ureigenen Gebiet doch eine ganze Menge Einfühlungsvermögen, und man ist unwillkürlich berührt, wenn man im vorliegenden Re-Release der Scheibe die Liner Notes seines Gitarrenkompagnons Mike Flyntz liest, der schildert, wie die beiden monatelang an diversen Melodien und Harmonien arbeiteten, um ihnen ein irisches und/oder keltisches Feeling zu verpassen. Schon die ergreifende Gitarrenmelodie im Intro „Black Water“ verdeutlicht, dass sich der Aufwand gelohnt hat, und was Reale und Flyntz im schnellen Opener „Angel Eyes“ veranstalten, gehört zu den absoluten Sternstunden im an Höhepunkten weißgott nicht armen Riot-Katalog. Mit „Danny Boy“ steht überraschend nur eine Traditional-Bearbeitung auf der Scheibe, und die war obskurerweise in der originalen Songverteilung nur der Japan-Bonustrack, so dass die volle Irish Trilogy, als welche die Nummern „Forsaken Heart“, der Titeltrack und eben „Danny Boy“ verklammert sind, lediglich auf der 1997er Japan-Erstveröffentlichung, nicht jedoch auf den europäischen und US-amerikanischen Editionen der Jahre 1998 bzw. 1999 zu hören war. Dafür fehlte der Japan-Edition aber „Turning The Hands Of Time“. Der 2017er Re-Release in der Digisleeve-Serie von Metal Blade Records vereint nun alles Material, fügt noch die beiden Extratracks der Angel Eyes-EP, nämlich „15 Rivers“ und „Red Reign“, hinzu und packt mit einer Akustik-Demofassung von „15 Rivers“ noch eine bisher unveröffentlichte Aufnahme ans Ende.
Letzteres hätte die verantwortliche Riege lieber bleiben lassen. Sänger Mike Dimeo klingt auf dieser Nummer nämlich im hinteren Teil arg schräg, und während er im Albummaterial eine gewohnt gute Leistung vollbringt, behält man ihn unwillkürlich eher anhand dieser teilweise gruseligen Linien in der Demoaufnahme in Erinnerung, und das trübt den Gesamteindruck stärker als nötig. Zwar ist es durchaus nicht uninteressant, mal in einen „Werkstattzustand“ hineinzuhören, aber einen solchen zu veröffentlichen hat immer noch ein anderes Gewicht. Die Nummer selbst ist im Gesamtkontext auch eher als durchschnittlich einzustufen und daher wohl zu Recht auf die EP ausgelagert worden, was analog auch auf „Red Reign“ zutrifft, trotz dessen nach hinten raus sehr enthusiastischen Refrains. Aber da wäre noch ein grundsätzliches Problem: Mit „Angel Eyes“ steht ein großer Knaller auf der Scheibe – aber er bleibt der einzige dieser Kategorie. Alles, was danach kommt, unterschreitet ein gewisses Qualitätsniveau nicht, durchbricht es aber auch allzuselten nach oben. Flyntz schreibt, dass Thin Lizzy bei den Aufnahmen öfter Erwähnung fanden, und Inishmore ist tatsächlich sowas wie die Übersetzung des Lizzy-Stils in den Riot-Sound geworden, was man gleichermaßen als Trumpf wie als Problem ansehen kann, je nachdem, wie man zu Phil Lynott und seinem Schaffen steht. Auffällig ist, dass der zurückgekehrte Drummer Bobby Jarzombek das Tempo oftmals sehr hoch hält, die Feinziselierung der Gitarrenarbeit aber einen „härteren“ Eindruck der Musik verhindert – und auch das kann man wieder positiv wie negativ betrachten: als Verquickung zweier Welten, aber auch als Landung zwischen zwei Stühlen. „Turning The Hands Of Time“ enthält zudem ziemlich komplexe Rhythmuselemente, die in Verbindung mit den plötzlich auch noch hinzutretenden Geigen dem Song einen leicht progressiven Anstrich verleihen, an den man sich erst gewöhnen muß. Deutlich schneller findet man in „Liberty“ die wohl unbeabsichtigte Verbeugung vor Accepts „Princess Of The Dawn“ und wird unwillkürlich zum Schmunzeln angeregt, ohne Reale dieses Element freilich übelzunehmen. Zu bemüht wirkt hingegen „Cry For The Dying“, das nach reichlich vier Minuten Speed plötzlich eine Vollbremsung hinlegt und sich in schweren Windungen noch über eine Minute dahinschleppt, bevor es eher unmotiviert ausklingt – Weglassen wäre eine bessere Option gewesen, konsequentes Ausarbeiten der kompositorischen Idee des Schlußteils eine noch bessere.
Den Grat zwischen Classic Rock und Metal, auf dem Riot ja schon seit Nightbreaker wandeln, verlassen sie auch auf Inishmore nicht, trotz der irischen Anklänge und des deutlich erhöhten Tempos klingt das Album seinem Vorgänger erstaunlich ähnlich, wofür neben dem Aspekt, dass die besagten irisch-keltischen Harmonien oftmals eher unauffällig ins Material eingepaßt wurden, Dimeos markante Stimme wahrscheinlich einen der Hauptgründe abgibt, und der hört man auch hier deutlich an, dass sie für Classic Rock besser geeignet ist als für melodischen Speed Metal, wenngleich der Vokalist natürlich genügend Klasse besitzt, sich auch bei den Anklängen an letzteren gekonnt aus der Affäre zu ziehen. Aber wenn er wie in „Gypsy“ in deutlich tiefere Lagen ausweicht, hinterläßt das bisweilen einen unentschlossenen Eindruck, auch wenn Flyntz schreibt, dass Reale das genau so gewollt habe. Von den vierzehn Eigenkompositionen gehen zehn aufs alleinige Konto des Bandkopfs, und es spricht Bände, dass der Knaller „Angel Eyes“ einer der vier anderen ist, nämlich eine Reale-Flyntz-Coproduktion. Zwar darf gemäß der Liner Notes Flyntz‘ Anteil an der Melodien- und Harmonienfülle nicht unterschätzt werden, aber letztlich hatte Reale doch den Hut auf und zaubert hier ein abermals gutes, aber an den absoluten Großtaten Riots nicht vorbeikommendes Werk aus selbigem. Im leider nur knapp zweiminütigen balladesken „Forsaken Heart“ als erstem Teil der irischen Trilogie zeigen Reale und Dimeo nochmal, was man aus der Konstellation auch emotional herausholen kann, und wer für diesen Themenkreis grundsätzlich empfänglicher ist als der Rezensent, wird möglicherweise die Wertung nach oben zu schrauben geneigt sein und auch die leicht unentschlossen wirkenden, wenngleich alles andere als schwachen hinteren Teile der Trilogie höher zu schätzen wissen. Dass es sich um eine lohnende Scheibe handelt, steht außer Frage, und um ihren Genuß nicht unnötig zu schmälern, sollte man seinen CD-Player so programmieren, dass er nach Track 15 stoppt und das erwähnte Demostück nicht wiedergibt. Das Posterbooklet ist diesmal noch detailreicher als auf den bisherigen Re-Releases (Liner Notes gibt es hier erstmals), das Cover läßt freilich mal wieder keinerlei Rückschluß auf die Art der gebotenen Musik zu (das kennt man von Riot schon) und hätte auch von (den zur fraglichen Zeit noch tief im Untergrund vor sich hinlärmenden) Primordial verwendet werden können ...
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Black Water | 2:42 |
2 |
Angel Eyes | 4:27 |
3 |
Liberty | 5:08 |
4 |
Kings Are Falling | 4:33 |
5 |
The Man | 3:52 |
6 |
Watching The Signs | 4:35 |
7 |
Should I Run | 4:40 |
8 |
Cry For The Dying | 4:39 |
9 |
Turning The Hands Of Time | 5:08 |
10 |
15 Rivers | 5:18 |
11 |
Red Reign | 5:27 |
12 |
Gypsy | 5:20 |
13 |
Inishmore (Forsaken Heart) | 1:45 |
14 |
Inishmore | 4:32 |
15 |
Danny Boy | 3:39 |
16 |
15 Rivers (Acoustic Demo) | 3:45 |
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Besetzung |
Mike DiMeo (Voc)
Mark Reale (Git)
Mike Flyntz (Git)
Pete Perez (B)
Bobby Jarzombek (Dr)
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