Marais, M. (Joubert-Caillet, F.)

Deuxìeme Livre des Pièces des Viole (1701)


Info
Musikrichtung: Barock Gambe

VÖ: 04.10.2019

(Ricercar / CD / DDD / 2015-2018 / Best. Nr. RIC 408)

Gesamtspielzeit: 356:24



KONTINENT MARAIS

142 Stücke umfasst der zweite Band von Marin Marais Kompositionen für Bass-Gambe und Continuo aus dem Jahr 1701. Das ergibt in der bislang ersten Gesamteinspielung sechs Stunden Musik auf insgesamt fünf CDs.
Der schiere Umfang des Projekts, sämtliche der fünf Gambenbücher von Marais erstmals integral einzuspielen, mutet schon ein bisschen verrückt an in Zeiten, in denen die CD-Umsätze sinken und Digitalisate aller Art den Sinn für große Werk-Zusammenhänge immer weiter auflösen.
Das soll nicht heißen, dass man Marin Marais Musik für Gambe nicht auch in einzelnen Tracks genießen könnte. Aber den kreativen Kontinent Marais erlebt man erst im Kontext dieser eindrucksvollen Produktion so richtig: All die verschiedenen Biotope, Landschaften, Regionen und Dialekte, die bei Marais aus der Gambe hervortönen, lassen einen ob des Reichtums an Eindrücken immer wieder staunen. Denn trotz der Menge an Preludes, Allemanden, Sarabanden, Couranten, Gavotten, Menuetten und Gigugen stellt sich auch bei ausdauerndem konzentrierten Hören kaum Ermüdung ein.

Das liegt zum einen daran, dass Marais ein Meister seines Metiers war, ausgesprochen expermientierfreudig und erfindungsreich. So gewinnt er den Basis-Tänzen, aus denen die Suiten sich in der Regel zusammensetzen, immer wieder neue Facetten ab, sei des durch markante Wendungen oder ein immer mehr verfeinertes Vokabular an Spielweisen, mit denen die Gambentöne klanglich individuell geformt werden und in unendlich vielen Schattierungen erscheinen können. Selten einmal kann man die sonoren Reichtümer dieseses Instruments so umfassend studieren und genießen wie auf dieser Aufnahme.

Zum anderen öffnet Marais den Rahmen der klassischen Suite für neue Satztypen, z. B. Variationen (am berühmtesten die alle Register ziehenden 32 "Couplets de Folies"), freie Fantasien, Charakterstücke ("La Villageoise", "Allemande La Mignonne", "Gigue La Favorite"), musikalische Schilderungen (z. B. von Glocken in "Cloches Ou Carillon" oder die mysteriösen "Les Voix Humaines").
Dazu kommen zwei großdimensionierte "Tombeaus", sehr persönliche und ausdrucksintensive Trauer- und Gedenkstücke für Marais' Lehrer Sainte-Colombe und Lully. Obwohl die Sammlung also einerseits stark in der Tradition wurzelt, geht sie in deren Kontext zugleich über diese hinaus, vergleichbar den Entwicklungen in der Cembalomusik eines F. Couperin. Von daher hat das Publikationsjahr 1701 eine durchaus symbolische Bedeutung und markiert den Schritt in eine neue musikalische Epoche.

All das aber wären nur musikhistorische Daten, wenn sich nicht auch Interpreten wie François Joubert-Caillet und L’Achéron durch ihre Musizierweise dafür sorgten, dass die musikalische Fülle auch die Ohren des heutigen Publikums erreicht.
Die zweite Sammlung stellt anders als das erste Buch von 1686 ausschließlich die Solo-Gambe in den Vordergrund, dafür hat Marais aber den Continuo-Part sehr sorgfältig ausgestaltet, so dass die etwaigen Mitspieler ein reiches Betätigungsfeld vorfinden.
Wie von Marais vorgesehen, hat Joubert-Caillet aus den 142 Stücken mehrere große Suiten nach Tonarten zusammengestellt, die dann mit jeweils unterschiedlicher Continuo-Instrumentierung ausgeführt werden. Der Einsatz einer Harfe ist zwar nicht historisch verbürgt, aber musikalisch überzeugend und im Kontext der Gesamteinspielung als Farbvariante sehr willkommen.
Dazu treten Theorbe und Gitarre, außerdem ein Cembalo und eine zweite Gambe, dies alles in wechselnden Kombinationen. Dadurch ist ein eher diskretes, intimes Musizieren (Gambe und Theorbe) ebenso möglich wie fast schon orchestrale Wirkungen, so in der letzten Suite, wo eine 2. Gambe, das Cembalo sowie Gitarre und Theorbe mitspielen und vor allem die Folia-Variationen zu einem mitreißendem Erlebnis an feuriger Virtuosität und kraftvoller Klangentfaltung machen.

Weil die verschiedenen Contiuno-Instrumente im Zusammenklang ihren Part immer etwas anders interpretieren, entsteht eine farbige Heterophonie, die die führende Gambenstimme nicht nur begleitet, sondern kommentiert, akzentuiert, umspielt. Da erweisen sich die Musiker von "Le Archeron" als ebenbürtige Mitstreiter, die bestens mit François Joubert-Caillet harmonieren. Dieser bestätig nach der 1. Folge seines Mamutvorhabens erneut seinen Ruf als herausragender Vertreter seiner Zunft.
Dass die Musik durchgängig und auch über die Dauer der mitunter umfangreichen Suiten hinaus fesselt, dass man der Gambe bis in die letzten Verzierungen hinein in das Marais'sche Universum folgen möchte, das liegt eben wesentlich an Joubert-Caillets Fähigkeit, die notierte Musik in lebendige Klänge zu überführen: die Noten sprechen, singen, seufzen, tanzen, wispern, kokettieren, flirten, klagen und rasen, beschwören abgründige Melancholie und lichte Heiterkeit, sanfte Entrückung und wildes Temperament. Obwohl Marin Marais als "honnête homme" immer im Rahmen des guten französischen Geschmacks verbleibt, spielt seine Musik doch mit der ganzen Bandbreite menschlicher Ausdrucks- und Seelenregungen.

Joubert-Caillets Gambenton ist satt und dunkel, hat eine starke körperlich Präsenz und klingt auch in der von Marais hier oft bevorzugten hohen Lage nicht heiser. Er realisiert die Musik mit der unverzichtbaren Nonchalance: Nie wirkt es so, als würden Gambenetüden im Stapel abgearbeitet. Jedes Stück entsteht frisch, klingt oft frei und wie improvisiert. Selbst wenn Marais minutiöse Notation genau beachtet wird, ist sie eben das abstrakte Abbild einer lebendigen Spielpraxis, durch die auch der heutige Musiker hindurchgegangen sein muss, damit er das Stück mit seiner eigenen "Gambe-Stimme" zu Gehör bringen kann. Und genau dies sorgt dafür, dass auch dieses monumentale Opus im Ganzen nicht langweilt, sondern immer wieder den Hörer die Ohren spitzen lässt.

Die Produktion wurde auch aufnahmetechnisch wieder mustergültig betreut von Jérôme Lejeune und wird durch ein umfassendes mehrsprachiges Beiheft begleitet.



Georg Henkel



Besetzung

François Joubert-Caillet, Bassgambe

Sarah van Oudenhove, Bassgambe
Phlippe Grisvard, Cembalo
Miguel Henry, Theorbe
Vincent Flückiger, Gitarre
Angélique Mauillon, Harfe



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