Musik an sich


Reviews
Ciconia, J. (Guerber – Marti/Gondko)

Sämtliche Werke


Info
Musikrichtung: Mittelalter Ensemble

VÖ: 25.09.2011

(Ricercar / Note 1 / 2 CD / DDD / 2010 / Best. Nr. RIC 316)

Gesamtspielzeit: 158:00



SCHATZKISTE

Unter den Komponisten des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts nimmt Johannes Ciconia eine herausragende Stellung ein. Er beherrschte die kunstvollen konstruktiven Verfahren der frankoflämischen Schule und den sinnlichen Kontrapunkt der Italiener gleichermaßen. Doch drängt sich die Technik nicht in den Vordergrund. So sehr man z. B. die oft verwickelten Kanons für ihre Stimmverschlingungen bewundern mag, sind es doch vor allem die klangliche Schönheit, der melodische Erfindungsreichtum und der Ausdruck, den Ciconias Musik von den schematischen Hervorbringungen vieler seiner Zeitgenossen unterscheidet.
Dass diese die Qualität von Ciconias Musik zu schätzen wussten, zeigt die relativ große Zahl von überlieferten Stücken. Bei Ricercar sind die gesicherten Werke auf einer schön ausgestatteten Doppel-CD erschienen. Zwei profilierte Ensembles, La Morra und Diabolus in Musica, haben sich der komplexen Partituren angenommen und dokumentieren sowohl die hohe Kunst Ciconias wie auch das eindrucksvolle Niveau der Interpreten.

Dem weltlichen Oeuvre Ciconias widmet sich auf CD 1 "La Morra". Stücke wie Sus un’fontayne oder Chi nel servir, die von einer Singstimme und zwei „begleitenden“ Instrumentalstimmen dargeboten werden, lassen die viel spätere Entwicklung des monodischen Stils bereits erahnen. Mit ihren ausladenden Melismen fließen die virtuosen Oberstimmen geschmeidig und werden dabei von subtiler Rhetorik belebt. Raffinierte Wechselspiele zwischen imitatorisch geführten Stimmen und instrumentalen „Interludien“ kennzeichnen Per quelle strada. Dagegen bestechen die rein vokalen Duos Con lagreme oder Dolçe fortuna durch eine feine Balance der Stimmen, die zu einer einzigen, harmonisch ausdrucksvoll gefärbten melodische Linie verflochten sind.

Der Zartheit und Intimität der weltlichen Werke stehen die stimmlich meist stärker besetzten geistlichen Kompositionen gegenüber, die auf der zweiten CD von "Diabolus in Musica" dargeboten werden.
Die verstreuten Messätze Ciconias pflegen einen eher herben, archaisierenden Stil, der durch Hoquetus-Techniken belebt wird. Mit skandierenden Männerstimmen ist der Effekt besonders eindrucksvoll. Allerdings gibt es auch unter der geistlichen Musik Ciconias zahlreiche Kompositionen, die sich durch eine geradezu astrale Höhe auszeichnen, z. B. die funkelnde Motette Petrum Marcello Venetum / O Petre antistes inclite oder das verzückte Gloria spiritus et alme Nr. 6, die von den Sängerinnen des Ensembles mit Inbrunst dargeboten werden.
Erstaunlich immer wieder, wie reich der Stil dieses Komponisten ist – selbst mehrfache Vertonungen desselben Messtextes wirken nie stereotyp. Jene getragene Langsamkeit, die in der Renaissance die Musik so erhaben und entrückt klingen lässt, gibt es bei Ciconia eben noch nicht. Das rhythmische Profil ist ausgesprochen abwechslungsreich, munter zwitschernde Passagen und ruhigere Abschnitte wechseln einander ab. Verschiedene Instrumente wie Clavicimbalum, Flöte, Organetto oder Posaune ergänzen die vokalen Besetzungen und setzten Farbakzente.

Beide Ensembles werben mit ihren fantasievollen und stilistisch stimmigen Interpretation sowie einer eindrucksvolle Klangkultur für diesen Meister, der gar nicht mittelalterlich, sondern oft ausgesprochen modern klingt. Eine Schatzkiste!



Georg Henkel



Besetzung

La Morra
Corina Marti & Michal Gondko: Leitung

Dabolus in Musica
Antoine Guerber: Leitung


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