Grenet, F. L. – Dauvergne A. – Rameau, J.- Ph. (Dubois, C. – Vashegyi, G.)

Jouissons de nos beaux ans!


Info
Musikrichtung: Barock / Rokoko / Oper

VÖ: 15.09.2023

(Aparté / Harmonia Mundi / CD / DDD / 2021 / AP319)

Gesamtspielzeit: 77:00



HERBST DES ROKOKO

Während Marie Perbost auf dem Cover ihres neuen Albums „Dis moi, Venus …“ mit schelmischem Lächeln in einen goldenen Apfel beißt (Label: CVS), hält sich Tenor Cyrille Dubois auf dem Titelbild seines Programms unscharf im Hintergrund und kredenzt die schimmernde Frucht dem Publikum. Ja, solange diese Äpfel frisch und knackig sind, sollte man sie genießen!

„Jouissons de nos beaux ans“ – „Erfreuen wir uns an den schönen Jahren“ lautet denn auch übersetzt der Titel der Platte. Er stammt aus der letzten Opern Jean-Philippe Rameaus, „Les Boréades“, und die ausgelassen fröhliche Arie samt Chor und Orchester gibt es hier natürlich zu hören. Ansonsten steht Rameau aber nicht im Zentrum, zumindest nicht vokal. Er ist vor allem mit einigen Orchesterstücken präsent, bei dem das Orfeo Orchestra mit samtig-duftigem Klang gefällt.
Unter der Leitung von György Vashegyi breitet es auch sonst einen seidig glänzenden Teppich aus, auf dem Dubois das vielfältige barocke, oder besser: Rokoko-Erbe Frankreichs hochleben lässt. Wir erleben die Kunst der Verfeinerung und des ebenso empfindsamen wie preziösen Ornaments, wie sie z. B. unter Ludwig XV. von Madame de Pompadour kulturpolitisch gefördert wurde, bis unter Marie Antoinette ein eher pathetischer Klassizismus Gefallen fand.

Dass dabei überwiegend No-Name-Komponisten erklingen, die durch die Forschungsarbeit von Benoît Dratwicki und des Centre de musique baroque de Versailles wieder ans Licht gebracht wurden, ist ein Gewinn – man bekommt, noch mehr als bei Perbost, einen vertieften Einblick in die Repertoireentwicklung und stilistischen Austauschbewegungen. Allein 15 der Nummern sind „Weltersteinspielungen“. Hat man Rameau im Ohr, weiß man oft nicht so genau, wer wen beeinflusst hat, ob der Rameau-Sound von den anderen Komponisten imitiert wurde oder Rameau sich umgekehrt die jüngsten Trends seiner Zeitgenossen zu eigen gemacht hat. Man höre sich nur Pierre-Montan Bertons „Dans ce fatal instant, quels vœux puis-je former!“ aus „Deucalion et Pyrrha“ an (1755). Die Fagotte erinnern ebenso wie plötzliche melodisch-harmonische Twists an Rameau.
Wahrscheinlich ist beides richtig. In jedem Fall kann man hören, wie viele köstliche Früchte die spezifisch französische Spielart der barocken Oper hervorgebracht hat und wie hoch entwickelt diese Gattung gewesen ist.

Die Haute-Contre-Partien, die Dubois präsentiert, liegen alle unverschämt hoch und wollen doch (überwiegend) mit Bruststimme gesungen werden. Dieses Stimmfach sei „natürlich, männlich, strahlend und kraftvoll“, schrieb der musikliebende Mathematiker und Astronom Joseph-Jerôme Le Français de Lalande im 18. Jahrhundert. Mit seinem „ténor de grace“ bewältigt Dubois die hohen Töne ohne Mühe, wobei sich seine Stimme am schönsten und freiesten in den elegischen Arien entfalten kann.

Er überzeugt bei dem weitgehend unbekannten Repertoire durch die ebenso elegant-natürliche wie passionierte Gestaltung, mit der er die mal amourösen, dann wieder klagenden oder auch heroischen Ausdrucksmomente gestaltet. Erfahrungen, die er bei Ausflügen ins romantische Repertoire gemacht hat, nutzt er gewinnbringend, z. B. wenn er sein quecksilbriges Vibrato zur Intensivierung des Ausdrucks einsetzt und mit jugendlichem Feuer die Helden und Hirten aus der Mythologie beglaubigt. Oder Schmerzenstöne einflicht, die zu Herzen gehen. Selbst die abgedroschenen bukolischen Phrasen manch dichterischer Vorlage klingen bei ihm überzeugend und wahr.

Mit dieser Platte setzt Dubois seinen Vorgängern, die auf den Brettern der Pariser Oper im 18. Jahrhundert triumphierten (Louis Murayre, Denis-Francois Tribout, Pierre Jéliote, Francois Poirier oder der junge Joseph Legros), ein prächtiges Denkmal – die Früchte dieser Epoche sind immer noch delikat, fruchtig und schmackhaft! Und im herbstlich-nostalgischen Licht, das Vashegyi und seine Ensembles darauf werfen, leuchten sie mehr als verlockend.

Wer sich für den Abgesangt dieser Epoche interessiert: Reinhoud van Mechelen widmet sich auf seinem neuen Album „Legros“ den Werke der nächsten (und letzten) Haute-Contre-Generation, mit den klassizistisch-tragischen Werken Glucks und der Karriere des reifen Joseph Legros als Fokus (Label: Alpha).



Georg Henkel



Trackliste
Antoine Dauvergne: Mille tendres oiseaux sous cet ombrage frais & La jeune beaute qui m'enflamme aus "Les Amours de Tempe
Bernard Bury: Aveugle Dieu, tyran des ames aus "Les Caracteres de la Folie"
Francois Rebel / Francois Francoeur: Impetueux torrent, dont l’onde menacante aus "Tarsis et Zelie"
Francois-Lupien Grenet: 6 Arien aus "Le Triomphe de l'Harmonie"
Jean-Baptiste Cardonne: Deguisez bien, mon coeur, le feu qui vous devore aus "Ovide et Julie"
Jean-Joseph Cassanea de Mondonville: L’amour suit cet objet charmant aus "Les Fetes de Paphos"; Que vois-je? suis-je pret a finir ma carriere aus "Titon et l'Aurore"
Jean-Philippe Rameau: Premier et second Tambourins aus "Daphnis et Egle"; Sarabande pour Hebe et sa suite aus "Castor et Pollux"; Jouissons de nos beaux ans & Descente de Polymnie aus "Les Boreades"; Zais-Ouvertüre; Peuples heureux, unissez-vous a moi aus "Les Fetes de Polymnis"; Sons brillantes, celeste harmonie aus "La Guirlande"; Air pantomime & Chansons Bacchus, chantons momus aus "Platee"
Louis-Joseph Francoeur: Diux cruels, dieux impitoyables aus "L'Aurore et Cephale"
Joseph-Nicolas-Pancrace Royer: Air pour les Turcs en rondeau aus "Zaide, reine de Grenade"; Air pour les Jeux et les Plaisirs aus "Le Pouvoir de l'Amour"
Pierre Iso: Eclatez, bruyant tonnerre aus "Phaetuse"
Pierre-Montan Berton: Dans ce fatal instant, quels vœux puis-je former! aus "Deucalion et Pyrrha“
Besetzung

Cyrille Dubois, Hautre-Contre

Purcell Choir
Orfeo Orchestra

György Vashegyi, Leitung 


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