Harmonium ohne Bonaparte: Beethoven und Adams im Saisoneröffnungskonzert von MDR-Sinfonieorchester und MDR-Rundfunkchor
Das Eröffnungskonzert des MDR-Sinfonieorchesters für die Saison 2022/23 soll ein Symbol für ein Stück wiedergewonnene Normalität nach schweren Pandemiezeiten sein (über Ukraine-Krieg und Energiekrise denken wir in dem Kontext erstmal nicht nach). Dirigent Dennis Russell Davies erklärt in seiner kurzen Anmoderation dann auch, dass die Saison daher mit Beethoven beginnen müsse, denn schließlich sind die Feierlichkeiten zu dessen 250. Geburtstag, was die Möglichkeit der Darbietung größer besetzter Werke anging, vom Virus praktisch komplett verhagelt worden. Für markante Konzerte wie dieses Saisoneröffnungskonzert wird gern auch der MDR-Rundfunkchor mit eingebunden, aber der kommt noch nicht bei Beethoven zum Einsatz, was bedeutet, dass es weder dessen Neunte noch ein anderes seiner großen chorsinfonischen Werke gibt. Statt dessen steht seine Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 auf dem Programm, die „Eroica“ also, die mit ihrer schwierigen Genese zwischen Heldenverehrung und Enttäuschung (man sehe die Ausradierung von Napoléon Bonapartes Namen auf dem abgebildeten Titelblatt) natürlich auch prima in die Jetztzeit paßt. Davies will sich, wie bereits in den ersten Minuten des eröffnenden Allegro con brio deutlich wird, nicht an den theoretischen Debatten zum original von Beethoven gewünschten Tempo beteiligen, und auch historische Stilkritik ist in diesem Fall seine Sache nicht: Er nimmt seinen Beethoven in (spät-)romantischem Gestus, folgt also den Interpretationstraditionen, wie sie sich nicht zuletzt auch in Leipzig im Verlaufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben. Der fließende Gestus bleibt selbst in sägenden Streicherpassagen erhalten, ebenso wie der große Bogen übers Ganze hinweg, während die langsamen Teile oftmals einen tastenden oder tupfenden Charakter annehmen, trotzdem aber einen gewissen Vorwärtsdrang atmen. Der Dirigent hält das Tempo übersichtlich, auch die Tuttischläge besitzen keinerlei Vernichtungspotential und werden zudem aus einem milchigen Tiefstreicherunterbau heraus konstruiert. Schärfungen setzt Davies sehr bewußt und sparsam ein, etwa wenn die ersten Violinen zum Stillstand kommen, das erste Horn das Thema spielt und dort plötzlich tatsächlich Kantigkeit hineinkommt, die aber schnell wieder verschwindet. Die Transparenz genügt, um auch die Untervegetation des Orchesters zu hören, und an eine eher unprätentiöse Satzgestaltung gehört auch ein unprätentiöser Satzschluß, da liegt Davies richtig. Sechs Tage später spielt eine belgische Band namens Marche Funébre in Leipzig und agiert viel weniger trauerklößig, als man aufgrund des Namens vermuten könnte. Ob Davies tiefergehende Kenntnisse über den Doom-Metal-Bereich besitzt, dürfte eher zu bezweifeln sein, aber eine Parallele findet sich hier im zweiten Satz mit der Überschrift Marcia funebre (Adagio assai). Ja, der Dirigent läßt das Orchester zurückhaltend und eher traurig musizieren, aber den spätromantischen Existentialismus etwa eines Anton Bruckner, mit dem er sich ja bestens auskennt, kratzt er hier nicht einmal an – oder nur ganz selten, wenn man die trostlosen Momente etwa in einigen Cellopassagen werten will. Trotzdem hält er auch hier einen gewissen Flow aufrecht, ohne freilich durchgehenden Marschrhythmus zu pflegen. Zwei Antithesen baut er statt dessen genüßlich aus: gelöste Passagen mit nur vereinzelten großen Schlägen einerseits, flockige Dreiertakte mit Hüftschwung andererseits, wobei im letzteren Fall die planmäßige Klangkatastrophe nicht weit entfernt ist. Die spätere Bombastgestaltung ist meisterlich, Schärfungen gibt es auch hier wieder nur momentartig, und die langsame Finalgestaltung überzeugt gleichfalls. Im Scherzo (Allegro vivace) nimmt der Dirigent auch die Piano-Teile sehr treibend und trotzdem mit gekonnter Akzentuierung, freut sich über fröhliches Gehopse aus den Flöten und zieht den Celli die Dynamik förmlich aus den Instrumenten. Auffällig bleibt auch hier, dass das Trio zwar den Jagdcharakter gekonnt herüberbringt (woran die Hörner naturgemäß eine große Aktie haben), aber vom Grundgestus her gar nicht so weit entfernt von den Scherzo-Außenteilen liegt und sich das Ganze zudem auch noch prima ins spätromantische Gesamtbild der Wiedergabe einpaßt. Die Reprise kommt noch einen Tick zackiger von der Bühne und besitzt eine derartige Schlußwirkung, dass von den Rängen schon Applaus erschallt – bei einem üblicherweise erfahrenen Konzertpublikum wie demjenigen bei den MDR-Konzerten im Gewandhaus ein seltenes Phänomen. Die Erfahrenen wissen natürlich, dass da noch ein Satz kommt, nämlich das tempotechnisch dreigeteilte Finale. Im Allegro molto wirken die Pizzikatostreicher allerdings lange Zeit zu unentschlossen, und es dauert lange und führt über mehrere Zwischenstufen, bis der auch hier angestrebte Flow da ist. Die Einbindung der Tiefstreicher ins Gesamtklangbild, in den Sätzen zuvor hier und da noch mit Reserven, gelingt hier nun endgültig, was besonders für die kampfliedartigen Passagen von Bedeutung ist. Dass der Holzchoral zwar schön anmutet, aber im Fach des spätromantischen Eskapismus noch Reserven offenläßt, verwundert im gewählten Gesamtbild ein wenig. Dafür entschädigt der schleppende Bombast, der sich mit der Wucht eines Schneepfluges nach vorn arbeitet. Das Presto-Finale allerdings versucht den Niederreiß-Faktor ausschließlich mit Geschwindigkeit zu bewältigen, was nur zur Hälfte gelingt – der Überwältigungsfaktor bleibt also überschaubar, der Energietransport auch, und der Schluß kommt wieder völlig unprätentiös daher. Trotz dieser kleinen Merkwürdigkeiten ernten Davies und seine Musiker viel herzlichen und verdienten Applaus. „Harmonium und Männerchor – so stell’ ich mir die Hölle vor“, lautet ein bekanntes Bonmot, das dem einstigen Dresdner Kreuzkantor Rudolf Mauersberger zugeschrieben wird. (Wer einen Abend lang Spaß haben will, versuche diese Zeilen mal auf alle möglichen Lieder von „Macht hoch die Tür“ über den „Holzmichl“ bis hin zu diversen Nationalhymnen zu singen.) Das chorsinfonische Werk von John Adams, das nach der Pause auf dem Programm steht, heißt tatsächlich „Harmonium“, aber ein solches Instrument kommt nicht zum Einsatz, und zudem stehen auf der Orgelempore nicht nur die Herren des MDR-Rundfunkchors, sondern auch dessen Damen. Überdies stammt der Titel von einer Gedichtsammlung des amerikanischen Lyrikers Wallace Stevens, aus der Adams eigentlich Werke vertonen wollte, um ein Auftragswerk zur Einweihung der Louise M. Davies Symphony Hall in San Francisco anno 1981 zu erschaffen. Er merkte indes bald, dass Stevens’ Gedichte in Sprache und Rhythmusgefühl nicht mit seinem eigenen kompatibel waren, behielt also nur den Titel und vertonte statt dessen ein Gedicht von John Donne und zwei von Emily Dickinson. „Harmonium“ gilt als markanter Vertreter der Minimal Music, greift in mancherlei Hinsicht aber schon über deren Grundprinzipien hinaus, wenngleich es diese durchaus noch in grundlegenden Phasen pflegt. Donnes „Negative Love“ bildet die Basis für den ersten Satz, und der Flow kommt hier mit Vokalisen zunächst aus dem Chor, während die Instrumente nur Tupfer setzen. Das ändert sich erst mit den Kontrabaß-Einsätzen, die der ersten richtigen Textzeile wirkungsvolle Tiefe verleihen. Aus dem Minimalisten-Lehrbuch stammt die Schwellung über sechs Textzeilen hinweg, auch die Interpolation über die Silben „more brave“ könnte man dort aufnehmen, und die Tutti geraten recht undurchsichtig, bisweilen sogar psychedelisch anmutend. In der zweiten Strophe baut Davies einen kurzen dynamischen Gipfel auf, bevor das Stück wieder lehrbuchartig auspendelt. „Because I could not stop for death“ ist das erste der beiden Dickinson-Gedichte, von Adams zunächst mit vorsichtigem Tasten in angedüsterten Gefilden erkundet, wobei die große Trommel Abgründe öffnet, den Hörer aber nicht hineinstürzt. Die Angelic Voices, die der Komponist auf „in his civility“ erstmals hören möchte, hätten ihm von den Chordamen an diesem Abend sicher gefallen, die Ätherik überzeugt ebenso wie der Spannungsfaktor. Strophe 3 nimmt Davies wieder mal erstaunlich unprätentiös (keine Spur vom fröhlichen Spiel, das der Text hier beschreibt), ermöglicht damit aber eine stärkere Betonung der linearen Dynamik bis zum Ende von Strophe 4. Strophe 5 wird von unten her neu aufgebaut, bleibt aber unten und mündet schließlich in völlig zusammenhanglos anmutende Herdenglocken. Die werden von einem instrumentalen Zwischenspiel planmäßig ins Abseits befördert, das überwiegend aus wildem Tiefstreichergesäge besteht, sich ins Tutti wandelt und viel Energie transportiert, bevor es attacca in „Wild Nights“ übergeht, das den wilden Charakter aufnimmt, allerdings lange Zeit ohne jegliche Tieftöner, die sich erst mit diversen Einzelleistungen wieder ins Geschehen mischen, auch das Schlagwerk seinen Teil zu wildem Gerammel beitragen lassend. Der Gesamtgestus bleibt aber grell und (geplant) übernervös, markant (aber nicht nur) im Chor. Schließlich schwingt sich alles zu einem dramatischen Höhepunkt auf, aus dem der Chor in ein flottes, aber leises mehrminütiges Auspendeln führt. Der Applaus mutet zunächst etwas verwirrt an, erweist sich aber dann doch als ausdauernd, so dass es sogar einen Vorhang mehr als bei Beethoven gibt. Notiz am Rande: Ab dieser Saison verzichtet der MDR auf die Übergabe von Blumensträußen an die Dirigenten und Solisten seiner Konzerte und spendet statt dessen jeweils einen Baum für ein Aufforstungsprojekt auf einer ehemaligen Tagebaufläche, nämlich den sogenannten Bach-Wald am Störmthaler See südöstlich von Leipzig. Was am Konzertende an Davies übergeben wird, ist also das Spendenzertifikat für diesen Baum. Keine gute Nachricht für die Floristenbranche, aber natürlich prinzipiell eine gute Idee, solange die „Nachsorge“ für den Baum gesichert ist (in Dürresommern, wie sie aktuell öfter auftreten, hat ein Jungbaum auf Kippengelände ohne Zusatzbewässerung nur mäßige Überlebenschancen). Roland Ludwig |
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