Rameau, J. Ph. (Luks, V.)

Les Boreades


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 04.09.2020

(CVS / Note 1 / 3 CD / DDD 20209/ Best. Nr. CVS026)

Gesamtspielzeit: 165:15



HINREISSENDES OPUS SUMMUM

Nicht nur diejenigen, die das Glück hatten, im Januar 2020 bei einer der coronabedingt letzten Konzertaufführungen in der prunkvollen barocken Oper von Versailles live dabei gewesen zu sein, dürfen sich jetzt über diese formidable Aufnahme von Jean-Philippe Rameaus letzter Oper „Les Boreades“ freuen.
Es ist nämlich überhaupt die erste CD-Produktion dieser Oper seit John Eliot Gardiners bedeutender und immer noch packender Pioniertat von 1982; 2003 legten William Christie und Les Arts Florissants immerhin eine sehr gelungene Produktion auf DVD vor.

„Les Boreades“ ist ein monumentales Kaleidoskop von Rameaus reifen Möglichkeiten und der damals achtzigjährige Komponist zeigt keinerlei Ermüdungserscheinungen. Dass das Werk im Katalog so rar vertreten ist, mag zum einen mit den besonderen technischen Schwierigkeiten der virtuosen Musik zu tun haben. Zum anderen sorgte ein Copyrightstreit um das Libretto lange Zeit für Unsicherheiten und belastete jede Produktion mit zusätzlichen Kosten. Das scheint jetzt glückerlicherweise geklärt zu sein. 2021 soll eine neue kritische Edition der Partitur im Rahmen der Rameau-Gesamtausgabe erscheinen. Und vielleicht ist ja der neue Mitschnitt ein werbewirksamer Startschuss für eine Renaissance der „Boreaden“ auf der Bühne. 2021 steht die Oper, so Corona es zulässt, in der Komischen Oper Berlin in der Regie von Barrie Kosky auf dem Spielplan ...

Rameau selbst hat übrigens sein Werk nie auf der Bühne erlebt: 1763 wurde es zwar geprobt, doch die damals wohl als altmodisch und kompliziert empfundene Musik wurde kurzerhand durch die weniger fordernde und „melodischere“ Oper eines Kollegen ersetzt. Dabei hat Rameau in den „Boreaden“ seine Fähigkeiten noch einmal voll ausgeschöpft und nach einer Reihe von eher „gemäßigten“ Stücken eine in punkto Einfallsreichtum, harmonischer, deklamatorischer, rhythmischer und melodischer Raffinesse sprühende Musik geschaffen. Vor allem durch die Beschwörung der Elementarkräfte, speziell von Sturm- und Windklängen aller Art, die das hintergründige Leitmotiv der Oper abgeben, erreicht Rameau eine nachgerade symbolisch-psychologische Aufladung der Musik.
„Les Boreades“ führt in ein unerhörtes Niemandsland jenseits von Rokoko und Frühklassik und transzendiert den Zeitstil durch die Vereinigung von Gegensätzen: Die Oper ist verspielt und elegisch, dramatisch und lyrisch, avantgardistisch und traditionsbewusst zugleich. Immer wieder blitzt auch Rameaus Humor durch, auch lässt ein mitunter unheimlicher, archaischer Ton in manchen Stücken aufhorchen. Man vernimmt neuartige (und auch heute noch verblüffende) Instrumentalkombinationen vor allem bei den Holzbläsern, man erlebt ausdrucksstarke und orchesterbegleitete Rezitative sowie komplexe Ensembles aus Soli, Chor, Orchester, die geschickt mit einer großen Fülle origineller Tänze verwoben werden. Letztere haben durchweg Ohrwurmqualitäten. Die Musik hat jene geschmackvolle Künstlichkeit abgestreift, die die vorhergehenden Ballettopern Rameaus trotz aller Schönheiten oft etwas ermüdend machen. Hier ermüdet nichts, gibt es keinen Leerlauf an Ideen, vibriert jeder Moment.

Der jüngste Mitschnitt mit einem brillantem, vollmundigem Klangbild transportiert die schöpferische Kraft des Komponisten ebenso überzeugend wie die hervorragenden Leistungen der Sänger*innen und Instrumentalisten. Die Truppe um den Dirigenten Vaclav Luks und sein Collegium 1704, einem tschechischen Ensemble, profitiert dabei von einer zweijährigen Boreades-Tournee. Die mehrheitlich französischen oder belgischen Sänger*innen haben ihr Rollen tief verinnerlicht.
Auf der Seite der „Antagonisten“ überzeugt der Isländer Benedikt Kristjánsson als Calisis (einer der Boreadensöhne aus dem kalten, sturmzerzausten Norden) durch seine klare, höhensichere Haute-Contre-Stimme und ein genaues Französisch. Zusammen mit dem kernigen Bass von Tomáš Šelc, der seinen Bruder Borilée singt, macht er aus den Bewerbern um die Hand der Königin Alphise starke göttliche Konkurrenten für Abaris, einen Jüngling unbekannter Herkunft. In diesen Zögling des Apollo-Priesters Adamas (streng und gemessen: Benoît Arnould) hat sich die Königin von Baktrien allerdings unsterblich verliebt. Nicht ganz zu Unrecht: Am Ende entpuppt sich Abaris ebenfalls als Sohn des Apolls, den dieser mit eine Nymphe des Boreas gezeugt hat – womit dann alle Gegensätze zwischen Nord und Süd, Licht und Dunkelheit, Aufklärung und Naturkräften glücklich vereint und der Skandal einer unstandesgemäßen Verbindung vermieden wird. Freilich genügt die halbgöttliche Abstammung allein nicht: Der Jüngling muss zum Helden reifen, sich den eigenen Gefühlen und den dunklen Mächten stellen (wobei ihm freilich ein wunderbarer Pfeil hilft …)

Dabei ist Mathias Vidal in der männlichen Hauptrolle derart überragend, dass ihm von seinem ersten Auftritt an die Krone gebührt: Seine Darstellung des Abaris setzt Maßstäbe, was die subtile dynamische Gestaltung sowie die Ausschöpfung der emotionalen Palette angeht. Die von ihm gebotenen Monologe und Arien reichen an die besten Beispiele italienischer Barock-Opern heran – sicherlich auch, weil Rameaus Musik das hergibt. Aber nicht jedem Sänger gelingt es, dieses Potential gleichermaßen identifiziert, mit Verve und Sensibilität in jedem Ton zu entfalten. Das rührt an die Anklangsnerven.

Die von allen begehrte Königin Alphise wird von Deborah Cachet gesungen, einer ebenbürtigen Partnerin mit sinnlicher, substanzreicher Stimme, die über die nötige dramatisch-lyrische Pose verfügt, um die zwischen Neigung und Pflicht zerrissene Potentatin glaubwürdig zu charakterisieren. Ihre Dienerin Semire ist Caroline Weynants anvertraut, die auch die hochvirtuose Arie „Un horizon serein“ singt – ein Höhepunkt der Oper, der zeigt, dass Rameau mit den jüngsten Kreationen seiner italienischen Kollegen vertraut war und sie mühelos mit der spezifischen französischen Theatralik zu etwas Neuem verschmelzen konnte. Unter den weiteren Nebenrollen sei noch Nicolas Brooymans erwähnt, der Boreas, dem Gott der Nordwinde, die Attitüde eines gebrochenen Machos verleiht – komisch und „anmachend“ zugleich.

Das Orchester agiert musikantisch, erfasst in jedem Moment die Details von Rameaus penibel gestalteter Partitur und lässt die Farben leuchten. Stellvertretend für alle Mitspieler*innen sei der Schlagzeuger gelobt, der vielen Tänzen, aber auch Chorsätzen und vor allem der großen Sturmszene ein Extra-Kolorit verleiht, sie allesamt noch glitzernder, markiger, pulsierender, rauschender, stürmischer erscheinen lässt. Vaclav Luks meidet bei Rameau die Extreme, statt dessen belebt er die Tempi durch pikante Akzente und profiliert die Szenen durch klangliche Beleuchtungswechsel. Ein steter Puls treibt bei ihm die Musik voran, doch er weiß auch, an der rechten Stelle innezuhalten und die Musik atmen zu lassen. Diesem wohltemperierten Schwung überlässt sich auch der obertonreich intonierende Chor, aus dem auch einige weitere Solisten stammen.

Summa cum laude für diese Einspielung von Rameaus Opus Summum!



Georg Henkel



Trackliste
CD I: Akt 1 & 2 69:21
CD II: Akt 3 & 4 62:29
CD III: Akt 5 33:25
Besetzung

Deborah Cachet, Caroline Weynants, Mathias Vidal, Benedikt Kristjansson, Benoit Arnould u. a.

Orchester und Chor "Collegium 1704"

Vaclav Luks


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