Purcell, H. (Cremonesi - Waltz)
Dido & Aeneas (Choreographic Opera)
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Info |
Musikrichtung:
Barock Oper / Ballett
VÖ: 18.07.2008
(Arthaus Musik / Naxos / DVD live 2005 / Best. Nr. NTSC 101 311)
Gesamtspielzeit: 98:00
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DAS FLIEGENDE AUGE
Henry Purcells einzige durchkomponierte Oper Dido and Aeneas ist nicht vollständig überliefert. Der Prolog und einige Teile der Handlung fehlen. So dauert das Werk kaum mehr als eine Stunde. Seine stets von neuem frappierende Wirkung verdankt es allerdings nicht zum geringen Teil der auf diese Weise verdichteten musikalischen Handlung:
1. Akt: Dido, die Königin von Karthago, liebt den aus dem untergegangenen Troja geflohenen Helden Aeneas.
2. Akt: Hexen planen den Untergang der Königin und wollen Aeneas durch falschen Götterspruch zum Aufbruch gen Italien verleiten.
3. Akt: Der Betrug gelingt, Aeneas verlässt seine Geliebte. Dido stirbt an gebrochenem Herzen (oder durch Selbstmord?) und nimmt in einem ergreifenden Lamento Abschied.
Es gibt keine große Entwicklung der Gefühle, alles konzentriert sich auf den elementaren tragischen Konflikt. Dennoch kann man die behutsame Rekonstruktion der Oper durch den Dirigenten der vorliegenden Produktion, Attila Cremonesi, als gelungen betrachten. Cremonesi hat z. B. den ursprünglichen Prolog mit Material vertont, das aus dem erhaltenen Rest der Oper abgeleitet wurde und überhaupt nicht als Fremdkörper erscheint. Einige Texte werden auch gesprochen. Durch den Vergleich der erhaltenen Quellen ergaben sich auch neue Akzentsetzungen bei den Figuren. So wurde die Rolle der „politischen“ Second Woman gegenüber Didos Herzensvertrauter Belinda, die mehr für die emotionalen Kommentare zuständig ist, aufgewertet.
Doch nicht allein diese Restauration der Oper ist der Clou der Aufführung, sondern die vollständige „Choreographisierung“ von Purcells Meisterwerk durch Sasha Waltz. Die Choreographin kann dabei an den zahlreichen Tanzeinlagen anknüpfen, die darin enthalten sind. Die dienten ursprünglich der unterhaltsamen Auflockerung. Als Kommentar zu Handlung oder deren Ergänzung waren sie nicht gedacht.
Musik, Gesang, Szene und Bewegung bilden bei Waltz dagegen eine organische Einheit. Auch Chor und Solisten werden nach Möglichkeit in die Choreographie einbezogen. So werden die Hauptrollen und der Chor nicht nur gesungen, sondern durch Tänzer/innen verdoppelt. Das Drama ereignet sich simultan in der Musik, im Text, sowie in den getanzten/gespielten Gesten und Bewegungen, wobei sich das Ganze auch mal kontrapunktiert und kommentiert.
In einem zehnminütigen Intermezzo Ballet class emanzipiert sich der Tanz einmal selbstironisch von der Oper. Spektakulärer Effekt ist der Einsatz eines großen Glastanks im Prolog, der auf bzw. unter dem Meer spielt. Allerdings gibt es dann kaum mehr als anmutig hin- und hergleitende Tänzer/innen zu sehen, eine etwas verfremdete Illustration zur Musik.
Stark dagegen Didos Sterbeszene: Wenn sich die Königin in ihrem bodenlangen Haaren verfängt und wie in einen Kokon eingesponnen wirkt, dann ist das ein ungemein berührendes Bild für ihre Einsamkeit und die Schatten des Todes.
Erschwert wird das konzentrierte Zuschauen oft durch die MTV-schnelle Bewegung der Kamera, die von der Fern- auf die extreme Nahsicht schaltet, immer auf der Suche nach interessanten, aber nicht immer informativen Perspektiven. Dieses "fliegende Auge" bringt eine weitere gegenläufige Bewegung in das sowie schon sehr dynamische Geschehen hinein. Auf Dauer nervt das Tempo dieser Clips. Dazu kommt eine – durch digitale Nachbearbeitung erzeugte? – „Aura“, die alle Figuren in ein geschmäcklerisches ätherisches Geisterlicht taucht. Insgesamt bleibt der DVD-Eindruck der Produktion zwiespältig.
Cremonesi verleiht der Musik einen ausgesprochen modernen Ton. So wird die originale Ouvertüre durch die vielfach gestaffelte und gegenläufige Dynamik im fugierten Teil zu einem Urahn der Minimalmusik, ohne dass das etwas Gezwungenes hätte.
Auch sonst wirkt Purcells Musik sehr dramatisch, gespannt, kantig und sogar düster. Zwar fehlt es nicht an großen, elegischen Momenten bei der Klage Didos und dem ergreifenden Schlusschor. Aber weder findet man ausschließlich den sehr kultivierten, klangfeinen Ton eines William Christie oder Christopher Hogwood noch die humorvolle Rustikalität eines René Jacobs.
Cremonesis Hexen werden ausschließlich von Männern gesungen. Die Travestieeffekte sind aber zurückgenommen, so dass sich die Bosheit ungebrochen entfalten kann. Das kleine Werk, das so oft als intimes Kammerspiel erscheint, wird hier zu einer großen Musiktragödie. Aurore Ugolin als stimmstarke, sinnliche und empfindsame Dido und der nicht minder ausdrucksvoll singende, virile Reuben Willcox in der Rolle des Aeneas führen ein starkes Sängerteam an.
Georg Henkel
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Besetzung |
Dido: Aurore Ugolin (Mezzosopran) / Clémentine Deluy / Michal Mualem
Aeneas: Reuben Willcox (Bariton) / Virgis Puodziunas
Belinda: Deborah York (Sopran) / Sasa Queliz
Zauberin: Fabrice Mantenga (Bariton) / Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola / Xuan Shi
u. a.
Vokalconsort Berlin
Akademie für Alte Musik Berlin
Leitung/Rekonstruktion: Attila Cremonesi
Choreographie: Sasha Waltz
Bühne: Sasha Waltz / Thomas Schenk
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