Ives, Ch. (Sinclair)
Sinfonie Nr. 3 u. a. Orchesterwerke
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Info |
Musikrichtung:
Orchester
VÖ: 10.02.2003
Naxos American Classics / Naxos CD DDD (AD 2000) / Best. Nr. 8.559119
Gesamtspielzeit: 51:31
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KOMPROMISSLOSE SCHÖNHEIT I
DER KOMPONIST AMERIKAS
Ein Jahrmarktsbesuch wurde für den jungen Charles Ives (1874-1954) zu einem der prägenden musikalischen Erlebnisse seines Lebens: Während er mit seinem Vater auf einem Turm stand, näherten sich aus allen vier Himmelsrichtungen Musikkapellen. Jede spielte eine andere Musik, Märsche zumeist oder populäre Volkslieder. Das Ergebnis an jenem erhöhten Ort war eine Quadrophonie der überwältigenden Art: ein „natürliches“ Exempel für jene kühnen Neuerungen, die der Komponist Charles Ives schließlich in selbstgewählter Abgeschiedenheit vom Musikbetrieb seiner Zeit aufs Notenpapier brachte. Obschon ausgebildeter Komponist, entschied er sich nämlich Frau und Kindern zuliebe für einen „soliden“ Job als Versicherungskaufmann. Komponiert hat er in seiner Freizeit und war darin wohl das, was man im Angelsächsischen als Maverick, als genialen Sonderling, bezeichnet. Unvoreingenommen und experimentierfreudig nahm Ives die Polytonalität, Atonalität, Polyrhythmik und –metrik der Neuen Musik vorweg, arbeitete mit Collagen, Raumklangeffekten und der Kombination unterschiedlich besetzter Ensembles. Er war jedoch anders als manch späterer Kollege nicht an einer abstrakten und formalen Musik nach dem Motto l’art pour l’art interessiert. Ives schrieb eigentlich immer Programm-Musik im weitesten Sinne, mit deutlichem Bezug auf die Welt, in der er lebte. So bleiben selbst die abenteuerlichsten musikalischen Imaginationen des Komponisten auch für den unbedarften Hörer erstaunlich „griffig“.
Zumal es immer wieder Vertrautes zu hören gibt: Um eine bestimmte akustische Realität zu beschwören, konstruiert der Komponist aus häufig vorgefundener Musik Chiffren, die sich nach ihren eigenen, musikalischen Gesetzmäßigkeiten entfalten. Trivialmusik findet da ebenso Eingang wie die Melodien von Kirchenliedern; Bruchstücke klassischer Musik werden mit den Klängen des Jazz oder der Musik von Militärkapellen verwoben. Darin (nicht in der Stimmung, die ist sehr amerikanisch) ähnelt Ives Musik derjenigen Musik Gustav Mahlers, die jedoch noch sehr viel traditionellerer gesetzt ist. In der vielfachen Brechung, Fragmentierung und Schichtung des klingenden Materials spiegeln sich Szenen des ländlichen und städtischen Lebens oder die Weite und Schönheit der amerikanischen Landschaft. Das ist, bei aller Komplexität, oft von einer Reinheit und Klarheit des Ausdrucks, wie ihn kaum seiner komponierenden Landsmänner getroffen hat. Ives ist der amerikanischte aller amerikanischen Komponisten: Alltaggeräuschen und dilettantischen Blasmusikanten, einer feiernden Kirchengemeinde, Festtagen und spielenden Kindern, dem nächtlichen Central Park oder Orten in New England hat er klingende Denkmäler gesetzt, mal mit geradezu mystischen Ernst, mal ausgelassen und nicht selten mit augenzwinkerndem Humor.
ORCHESTRALES
Einen vielfältigen Einstieg in Ives Werk bietet diese Einspielung mit der kirchenliedgesättigten 3. Sinfonie, den beiden berühmten „Kontemplationen“ Central Park in the dark und The unanswered question sowie drei weiteren, kürzeren Stücken. Washingtons Birthday z. B. beschwört ein Neuengland-Winterlandschaft in zarten Farben: blauweißes Glitzern, eisiges Schneegestöber, kalter Dunst, plötzlich aber erklingt ein stürmischer Barn Dance mit Maultrommel! Beim „Country Band“ March führt Ives dagegen mit schmissiger Meisterschaft vor, wie zwei Musikkapellen ohrwurmgerecht kollidieren. Vor allem die beiden „kontemplativen“ Stücke gehören zu dem Schönsten und Berührendsten, das Ives geschrieben hat. Bei der Zeichnung der geheimnisvollen sommernächtlichen Park-Atmosphäre erweist sich der Komponist als meisterlicher Impressionist – um so verblüffender, ja verstörend der Effekt, wenn die „Sinfonie der Großstadt“ (Straßenlärm, Barmusik á la „Hello, ma Baby!“ und Pferdewiehern(!)) für einen kurzen, tumultosen Moment in diese Idylle hereintönt. Auf dem dissonanten Höhepunkt kehrt jedoch urplötzlich die magische Ruhe des Anfangs zurück. Die „Unbeantwortete Frage“ ist ein metaphysisches Stück über ein „kosmisches Drama“ (Ives); über einem unergründlichen Choral der Streicher klingt mehrfach die „Frage“, rätselhaft und unnahbar intoniert von der Trompete, die von den aufgeregten Holzbläsern (die die Menschensphäre repräsentieren), zunehmend aggressiver beantwortet wird. Vergebens: Auch hier bleibt nach mehreren, sich steigernden Episoden nur der unfassbare, ursprungslose Klangstrom der Streicher übrig.
Der Ives-Kenner James Sinclair bietet in allen Fällen nicht nur hochmusikalische und fein ausgehörte, sondern auch sehr authentische Lesarten. So findet für die Ragtimes in Central Park ein echtes, verklimpertes Barpiano Verwendung; faszinierend sind auch die vom Dirigenten zum Teil rekonstruierten chromatischen „Schattenlinien“, mit der Ives die Musik der 3. Sinfonie: The Camp Meeting wohl ursprünglich angereichert wissen wollte. Man meint, im Hintergrund die leuchtenden Farben des „Indian Summer“ zu sehen. Die Northern Sinfonia spielt alle Werke ausgesprochen klangschön und mit präziser Leichtigkeit. Das Klangbild ist klar und homogen, manche Effekte wie Maultrommel und „verpatzte“ Saxophoneinsätze, hätte ich mir aber noch plastischer gewünscht.
Georg Henkel
Trackliste |
01-03 Symphony No.3 „The Camp Meeting“ 21:24 04 Washington’s Birthday 09:33 05 The Unanswered Question (Version No. 2) 04:36 06 Central Park in the Dark 06:18 07 „Contry Band“ March 04:18 09 Overture and March „1776“ 03:21 |
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Besetzung |
Northern Sinfonia
Ltg. James Sinclair
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