Rhythm is it!
„It’s fucking unbelievable!“ Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, ist nach der Generalprobe ehrlich verblüfft, dass es gerade tatsächlich funktioniert hat: 239 Jugendliche aus verschiedenen Schulen Berlins tanzen Ende Januar 2002 in der Treptower Arena Igor Stravinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“. Nicht irgendwie, sondern, berauscht von der „gefährlichen weißen Hitze“ dieser „wahnsinnigen“ Musik (Rattle), ganz und gar hingegeben an ein Projekt, an dessen erfolgreich Realisation manche von ihnen bis zum Schluss nicht geglaubt haben mögen.
DAS PROJEKT
Was zunächst nach einer AG für Begabte klingt, ist ein gewagtes Experiment, das die Grenzen des Schul- und Musikbetriebes in beide Richtungen überschreitet: Die Schülerinnen und Schüler im Alter von 11–19 Jahren haben nicht nur häufig einen schwierigen sozialen oder familiären Hintergrund, sie kommen überdies aus 25 verschiedenen Nationen. Kontakt mit Tanz und klassischer Musik hatten bislang nur die Wenigsten, lediglich eine kleine Zahl spielt auch ein Instrument. Angehörige von Kulturen und Gruppen, die außerhalb des Projekts keinen Kontakt haben oder sich sogar feindselig gegenüberstehen, sollen innerhalb von sechs Wochen eine rund dreißigminütige Choreographie bis zur Aufführungsreife in ihre ungeübten, unfertigen Körper bekommen!
Initiator des Ganzen ist das von Rattle nach englischem Vorbild ins Leben gerufene Education-Project der Berliner Philharmoniker. Es arbeitet hier mit dem Team um den Choreographen Royston Maldoom zusammen, der seit über 30 Jahren Tanzprojekte an sozialen Brennpunkten realisiert. Dass die Wahl gerade auf Stravinskys Sacre fiel, sozusagen die Hardrock-Variante des klassischen Balletts, kommt nicht von ungefähr: Die ungemein physische, ekstatische Energie der Musik spricht die ursprünglichste musikalische Empfindung im Menschen an: den Rhythmus. Eine eruptive, dissonante, gärende Musik. Ein komponierter Rauschzustand. Da mögen die Schwellen, die bei klassischer Musik nach wie vor hoch sind, für die Jugendlichen vielleicht doch niedriger liegen als z. B. bei „Schwanensee“. Was ein Stravinsky-Verächter wie Adorno dazu wohl gesagt hätte? Er hörte in dem bahnbrechenden Werk lediglich ein Gegenstück zum knallenden Stiefelschritt der Faschisten, diagnostizierte Primitivismus und Entindividualisierung ... Jetzt soll diese Musik genau das Gegenteil bewirken: Einen Zugang zur Hochkultur eröffnen und den Mitwirkenden ein neues Selbst- und Körpergefühl vermitteln.
DER FILM
Parallel zu den Proben entstand ein Film, der gerade in die Kinos gekommen ist: “Rhythm is it!”. Man sollte sich diese sehr bewegende und inspirierende Dokumentation auf keinen Fall entgehen lassen! Und für alle Verantwortlichen aus Erziehung, Kultur und Politik müsste er Pflichtprogramm sein.
Die Regisseure Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch haben die Atmosphäre während der Proben bis zur Aufführung mit ihrer einfühlsamen Kameraarbeit eingefangen. Man sieht die großen Schwierigkeiten, aus einem Haufen oft unsicherer und unkonzentrierter, körperentfremdeter Jugendlicher ein Team von Tänzer/innen zu machen. Man erfährt etwas über die Ängste, Hoffnungen, Frustrationen und (inneren) Konflikte der Jungen und Mädchen, ihre Suche nach dem „Fokus“ und der eigenen Persönlichkeit. Und man beginnt zu begreifen, wie viel pädagogische Erfahrung, Kraft und Klarheit nötig sind, um so ein Projekt erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Dass der Spaß mit der Herausforderung kommt, dass Disziplin unverzichtbar ist, das vermittelt der charismatische Royston Maldoom ebenso beharrlich wie leidenschaftlich. Er fordert und provoziert, auch gegen den pädagogischen Einspruch der Lehrerinnen. Sein Angebot steht: „Eine Tanzschule kann dein Leben verändern!“ Es ist an den Jugendlichen, sich darauf einzulassen.
Im Gegenschnitt dazu erlebt man Simon Rattle und die BP bei den Proben zu „Sacre“; in eigenen Porträts sprechen Rattle und Maldoom über ihren Weg zu Musik und Tanz und über ihre künstlerischen und pädagogischen Ideale.
DREI GESCHICHTEN
Doch bei all dem bleibt es ein Film, in dessen Zentrum die jungen Protagonisten stehen. Im Kontrapunkt der Stimmen und Bilder bilden die Geschichten von drei Jugendlichen einen Fokus: Marie, eine 14 Jahre alte Hauptschülerin, die sich als „nicht dumm, aber faul“ bezeichnet. Im Laufe der Proben kommt sie mehrmals an ihre Grenzen, wächst aber schließlich über sich hinaus und wechselt sogar in eine Gruppe mit Fortgeschrittenen. Da geht es nicht nur um die Erfahrung, was alles in ihr steckt und dass sie für sich selbst ganz neue Perspektiven entwickeln kann, sondern auch darum, ihren Weg unter Umständen ganz alleine zu gehen – ihre beste Freundin Franzi will den Schritt „zu den anderen“ nämlich nicht mitmachen. Am Schluss des Films spricht Marie über ihre Zukunftspläne: Die Noten in Mathe müssen besser werden, vielleicht sollte sie nach der 10. Klasse mit der Schule weitermachen ... Martin, ein 19jähriger Gymnasiast, der in der assoziierten Tanzwerkstatt „No Limit“ mitmacht, traut niemanden, findet immer etwas auszusetzen und mag es auch nicht, andere körperlich zu berühren oder berührt zu werden. Deswegen ist er dabei – um etwas an sich zu verändern. Die inneren Kämpfe spiegeln sich in seinem Gesicht. Er wird auch nach dem Projekt noch in der Tanzgruppe weitermachen. Am bewegendsten ist wohl die Geschichte des nigerianischen Kriegwaisen Olayinka. Dem 16 Jahre alten Jungen steht das Trauma noch in das verlorene Gesicht geschrieben. Und doch: Sein Lebenswille, seine Lust an der Herausforderung sind ungebrochen.
Drei Biographien, drei Erfolgsgeschichten ... ob und wie viele Schüler zwischendrin doch noch abgesprungen sind, verrät der Film nicht. Aber dass nicht alle gleichermaßen mitziehen, wird immerhin deutlich: „Also interessiert mich eigentlich nicht. Ist mir irgendwie im Grunde scheißegal. Ich mach, was die sagen, mehr nicht “ bringt das ein Schüler auf den motivatorischen Nullpunkt.
Ein Film, der begeistert, der mitreißt und Mut macht. Ein Film über die Macht der Musik. Der Verleih hat mir mitgeteilt, dass eine Veröffentlichung von Rhythm is it! auf VHS und DVD mit einem vollständigen Mitschnitt der Aufführung und weiteren Aufnahmen von der Probenarbiet geplant ist...
Die Website zum Film ist übrigens vorzüglich gestaltet und bietet sehr, sehr viele Informationen, eine umfangreiche Galerie, Biographien der Beteiligten, Interviews und zahlreiche Downloads.
Georg Henkel
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