Ligeti, G. u. a. (The King’s Singers)

WONDERLAND


Info
Musikrichtung: Neue Musik / Vokal

VÖ: 08.09.2023

(Signum Classics / Note 1 / CD / DDD / 2022 / SIGCD739)

Gesamtspielzeit: 67:04



WONDERFUL

Bei einem neuen Album der King's Singers stellt sich eigentlich immer die gleiche Frage: Was war zuerst da: Die Musik oder die King's Singers?

Denn der Sound dieses charismatischen Ensembles ist so unverwechselbar, dass buchstäblich alles, was die sechs Herren singen, zur King's Singers Music wird. Und da macht es auch keinen Unterschied, ob sie mittelalterliche Motetten oder neuzeitliche Folk-, Pop- oder Jazz-Arrangements zum Besten geben, ob sie das Repertoire der Avantgarde erkunden oder den klassisch-romantischen Chor- oder Liedgesang neu interpretieren. Seit 1968 setzt dieses Sextett die Benchmark für solistischen A-capella-Gesang und verjüngt sich dabei immer wieder. Die Mischung aus zwei charakteristischen Countertenor-Timbres, einem Tenor, zwei Baritonen und einem Bass macht ob der kristallklaren, instrumentalen Stimmführung sowie der enormen stilistischen und darstellerischen Wandlungsfähigkeit immer wieder staunen.

Und so verspricht auch das neueste Album nicht erst mit dem Titel, wohin die Reise musikalisch wie inhaltlich geht: "Wonderland" heißt die neue Scheibe. Das augenzwinkernd disneyputzige Cover verweist auf Märchenwelten und den Kosmos von Lewis Carrolls zauberhafter Alice, die in ein Land jenseits der menschlichen Logik gerät.
Bei der Auswahl der Stücke gibt es, was die Komponist:innen angeht, eine dazu passende Konstante und viele Extras: Den roten Faden bilden die sechs "Nonsense Madrigals", die György Ligeti von 1988 bis 1993 für das Sextett komponiert hat. Der 100. Geburtstag ungarischen Avantgardisten und Alice-Fans hat die neue Formation bewogen, diese Werke – nach eigenem Bekunden die allerschwersten Partituren im Notenschrank der Singers – noch einmal aufzunehmen und die surreal versponnenen Stücke mit Werken anderer Komponist:innen zu kombinieren, denen zumindest eine gewisse vokale Fantastik nicht abzusprechen ist.

Ligetis Stücke, die von Lewis Carrolls Wonderland-Alice, dem Struwelpeter und anderen exzentrischen Vorlagen inspiriert wurden, sind bei aller Kürze ungemein dicht, experimentell und hinreißend schön anzuhören. Ob es nun um eine "Quadrille für Hummer", die rasende "Off-with-her-head"-Herzkönigin, die melancholisch stimmenden Abenteuer des "Fliegenden Roberts" oder schlicht die Buchstaben des Alphabets geht – jedes Madrigal bezeugt den reifen, reichen Spätstil Ligetis mit seinen polyphonen und polyrhythmischen Überlagerungen, die hier oft in den Dienst eines hintergründigen Humors gestellt werden.

Nahe an der Nonsense-Welt Ligetis sind die Werke der KollegInnen, die Mythisches wie den urnärrischen Trickster (Judith Bingham), Märchenhaftes wie die Bremer Stadtmusikanten (Malcom Williamson), irreale Traumspiele (Ola Gjeilo) oder die Schöpfungsgeschichte (Paul Patterson) verkomponiert haben. Sie sind wie die übrigen Stücke ebenfalls eigens für die King's Singers geschaffen worden: Positive Zukunftsvisionen für die reale natürliche Welt entwickeln mit ihren Stücken Makiko Kinoshitas und Francesca Amewudah-Rivers. Lediglich das „I was there“ des prominenten japanischen Film- und Spielekomponisten Joe Hisaishi, das auf tragische Ereignisse wie den 11. September 2001 und das Erdbeben in Japan 2011 fokussiert, fällt aufgrund der ernsten Thematik inhaltlich aus der Reihe. Es stand eigentlich auf einem Programm für Japan, das wegen der Coronapandemie nicht stattfinden konnte. So erlebt es hier seine digitale Premiere.

Ergänzend zu den überdichten Gemmen Ligetis bieten diese Kompositionen meist weiträumige und lockerer gefügte, dabei nicht weniger überraschende Musik, die schwerelos zwischen den Künsten der alten Vokalmeister und modernen Klangimpressionen bis hin zum Jazz und Pop hin und her wechselt. Wenn man das mit „postmoderner Polystilistik“ labeln möchte, kann man das gerne tun – aber was bedeutet das schon! Denn wie gesagt: Am Ende wird's alles zur King's Singers Music, und die ist, well, einfach wonderful.



Georg Henkel



Trackliste
Makiko Kinoshita: Ashita no uta (Song for Tomorrow)
György Ligeti: Two Dreams and Little Bat; Cuckoo in the Pear-Tree; The Alphabet; Flying Robert; The Lobster Qudrille; A Long, Sad Tale
Ola Gjeilo: A Dream within a Dream
Francesca Amewudah-Rivers: Alive
Joe Hisaishi: I was there
Judith Bingham: Tricksters
Malcolm Williamson: The Musicians of Bremen
Paul Patterson: Time Piece
Besetzung

The King's Singers


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