Scarlatti, A. / Vinci, L. / Vivaldi, A. (de Sá)

Roma Travestita


Info
Musikrichtung: Barock

VÖ: 16.09.2022

(Erato / Warner Classics / CD / 2021 / Best. Nr. 0190296619809)

Gesamtspielzeit: 73:45

Internet:

Il pomo d´Oro



WUNDERBAR

In seinem Bookletbeitrag widmet der Sopranist Bruno de Sá die Aufnahme zunächst einmal Gott, mit Dank dafür, dass er ihm diese Stimme gab: einen Natursopran (d. h. anders als die heute weit verbreiteten Countertenöre falsettiert de Sá nicht, sondern singt in der ihm eigenen natürlichen hohen Stimmlage, die ihm auch nach der Pubertät erhalten blieb). Die gläubigen Barockliebhaber werden einstimmen und auch die Atheisten unter ihnen werden zumindest die Dankbarkeit teilen oder womöglich gar ein musikalisches Wunder attestieren können. Der Sänger geht weit über das hinaus, was bisher im Counterfach an Annäherung an den Klang der Kastratenstimmen möglich war. Seine Stimme erreicht, bei mattiert weißgoldenem Timbre und erstaunlicher Intonationssicherheit, ohne hörbare Anstrengung auch die höchsten Töne der Sopranlage. Dadurch kann de Sá sein Recital mit Arien spicken, die in der Blüte der (römischen) Kastratenzeit zwischen 1720 und 1760 jenen Sängern zugedacht waren, welche die weiblichen Figuren verkörperten, unter ihnen so berühmte Vertretrer der Zunft wie Farinelli oder Farfallino. Das war vom Ursprung her natürlich kein frühes Spiel mit Geschlechterrollen, sondern dem bizarren päpstlichen Verbot jeglicher Bühnenpräsenz von Frauen geschuldet. Die Auswirkungen waren gleichwohl von hohem sinnlichen Reiz (und nicht durchweg moralischer Stabilität) gekennzeichnet.

Der unermüdliche Trüffelsucher in den Archiven Yannis Francois hat de Sá ein Programm auf den Leib geschneidert, das nicht nur dessen Stimmumfang und Möglichkeiten ideal ausreizt, sondern uns zudem auch noch gleich acht unbekannte Arien als Weltersteinspielungen präsentiert. Denn neben den bekannten Größen wie Scarlatti und Vivaldi sind auch exotische Namen der Operngeschichte vertreten, so etwa der rätselhafte Rinaldo di Capua oder der maltesische Komponist Giuseppe Arena.
Das Themenspektrum reicht von der Wahnsinns- und Rachearie, über heftigen Herzschmerz und süßes Liebssäuseln bis zur frechen Koketterie. Die musikalische Bandbreite vom römisch-barocken Kernrepertoire bis zur Vorklassik in tonsprachlicher Nähe zu Gluck und frühem Mozart.

Man kann gar nicht genug loben, dass de Sá sich mit seinem Recital Zeit gelassen hat. Natürlich ist es bei einer derart heiklen Stimmlage ein Wagnis, zunächst einmal Bühnenerfahrung zu sammeln und die eigenen Möglichkeiten auszuloten. Schöner als hier könnte sich ein solch kluges Vorgehen aber nicht auszahlen: Der Sopranist begnügt sich nicht mit reinem Virtuosentum, sondern formt die Affekte der Figuren sehr plastisch, gibt jeder Arie eine ganz eigene Schattierung im Ausdruck. Seiner Stimme mag die Portwein-Süße mancher Counter abgehen, doch steht ihm auch hiervon genug zu Gebote, um im rechten Moment damit ein anrührendes Personenportrait zu zeichnen. Daneben verfügt de Sá aber über enorme stimmliche Durchschlagskraft, so dass wir hier einige wirkliche Heldinnen mit heldenhaftem Ton zu hören bekommen. Dabei werden die Registerübergänge verblüffend bruchlos vollzogen - von der profunden Tiefe bis in die schwindelerregendsten Höhen (gerne auch mal in einer Arie sechsmal zum dreigestrichenen D) bleibt der Gesang perfekt durchgewoben. Viel Anlass also zum Staunen und zum ungläubigen Kopfschütteln, zumal die Tontechnik diese Ausnahmestimme geschickt in den Vordergrund rückt und das Orchester Il pomo d´Oro mit einer geschmeidig-zupackenden Begleitung ohne jeden Hang zur Übertreibung überzeugt.



Sven Kerkhoff



Trackliste
Arien aus Opern von Alessandro Scarlatti, Leonardo Vinci, Antonio Vivaldi, Rinaldo di Capua, Giuseppe Arena, Baldassare Galuppi, Gioacchino cocchi, Nicola Conforto, Livia Claudia Vestale, Francisco Javier Garcia Fajer, Niccolo Piccinni
Besetzung

Bruno de Sá: Sopran

Il Pomo d´Oro
Francesco Corti: Ltg


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