Partch, H. (Ensemble Musikfabrik)
Delusion of the Fury – A Ritual of Dream and Delusion
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik Ensemble
VÖ: 01.07.2022
(Wergo / Naxos / CD / DDD / 2015 / Best. Nr. WER 78712)
Gesamtspielzeit: 72:32
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MITREISSENDE OUTSIDERKUNST
2013 gelang dem Ensemble Musikfabrik auf der RuhrTriennale ein echter Coup, als es das Musiktheaterstück „Delusion of the Fury“ des amerikanischen Komponisten-Maverick Harry Partch (1902-1974) aufführte – eine europäische Premiere. Partch hatte das Werk 1966 für das eigens von ihm entwickelte Instrumentarium komponiert, mit dem er seine Vision einer Musik realisierte, die sich aus den Fesseln des wohltemperierten abendländischen Tonsystems befreit hat. Bei Partch umfasst eine Oktave 43 mikrotonale Schritte, sie folgt damit dem Ideal reiner Stimmung (das westliche Tonsystem nimmt dagegen bekanntlich kleinere Verstimmungen in Kauf, um mit 12 Stufen über mehrere aufeinander folgende Oktaven auszukommen).
Mit Partch Instrumenten sind exotisch schillernde Harmonien möglich, die das traditionelle Klangbild um zahllose Möglichkeiten bereichern. Theoretisch hatte Partch dies 1949 in seinem Buch „Genesis of Music“ ausgearbeitet. Bereits davor und vor allem in den folgenden Jahrzehnten entstanden ausgesprochen originelle und zum Teil auch erstaunlich große Instrumente, überwiegend Schlagzeug, aber auch adaptierte Streich- und Zupfinstrumente und modifizierte Harmoniums, auf denen sich diese feinen Unterteilungen realisieren ließen. Am Ende umfasste das volle Partch-Orchester 27 Instrumente.
Bereits deren Namen deuten auf die oft fantastischen Konstruktionen hin: Mazda Marimba, Spoils of War, Zymo-Xyl und Quadrangularis Reversum. Chromelodeons, Cloud-Chamber Bowls, Diamond Marimba, Eucal Blossom, Gourd Tree and Cone Gongs … Für Partch war ihre kunstvolle Gestaltung aus natürlichen oder auch unvermuteten "Schrott"-Materialien – Glasbehälter aus der chemischen Industrie kamen ebenso zum Einsatz wie die Hülsen von Geschossen – ebenso wichtig wie die Klänge, die sich auf ihnen erzeugen ließen.
Wie Partch überhaupt der physischen Seite der Aufführung und der körperlichen Aktion der Ausführenden größte Bedeutung beimaß. Mit seiner Musik und Ästhetik rebellierte er gegen die traditionelle steife Konzertpraxis, die das immer gleiche klassische Repertoire für ein saturiertes Publikum – „die Ladys mit den blaugetönten Frisuren“ – spielte.
Partch, der in den Jahren der großen Depression als Hobo lebte und bittere Armut ebenso wie große Freiheit erlebte, der ein schwerer Trinker war und Männer liebte, lässt auch diese Erfahrungen mit seine Musik einfließen und verweigert sich den Normen der „feinen Geselsschaft“.
Vielleicht auch deshalb ist seine Musik auf ausgesprochen attraktive Weise körperlich und rhythmisch: Eine Avantgarde, die den ganzen Menschen im Blick hat, die Klang, Bewegung, Ritual und Drama verbindet und eine überzeugenden Weg weist, Unterhaltungs- und Kunstmusik miteinander zu versöhnen. Eine neue Musik, die Innovation und Tradition zusammenführt und in archaischen östlichen Kulturen und Volksmusiken ebenso wurzelt wie sie an das elaborierte, komplexere Niveau westlicher Musik anschließt.
Die kostbaren Originalinstrumente befinden sich heute in University of Washington in Seattle und werden nur noch zu Studienzwecken gespielt. Lange Zeit gab es nur in den USA ein Set Kopien, mit denen Partch‘ Musik von spezialisierten Musiker:innen aufgeführt werden konnte. Doch mit Hilfe der Kunststiftung NRW, der Kulturstiftung des Bundes und unter Beteiligung der Musikfabrik NRW wurden die Instrumente vom Schlagzeuger Thomas Meixner nachgebaut – ein aufwändiges und kostspieliges Unterfangen, dass freilich durch das herausragende Ergebnis in jeder Hinsicht gerechtfertigt wird.
Mit „Delusion of the Fury“ kam dann 2013 auch gleich Partch' „Opus Summum“ zur Aufführung, das das komplette Instrumentarium in voller Pracht präsentierte. Partch hatte in den beiden Teilen seines Werks zwei alte Geistergeschichten aus dem japanischen Noh-Theater und eine humorvolle äthiopische Geschichte zu Grunde gelegt.
Bislang legte von der Aufführung und der überaus stimmigen „Hobo“-Inszenierung durch Regisseur Heiner Goebel lediglich ein DVD-Mitschnitt Zeugnis ab, den man bei der RuhrTriennale erwerben konnte.
Jetzt nun endlich folgt auf CD die Musik in Studioqualität. Dabei konnte Partch noch vor seinem Tod 1974 das Werk selbst mit seinem Ensemble aufnehmen – eine legendäre Columbia-Produktion von 1971, die immer noch im Handel ist, auch als LP. Umso erfreulicher ist es, dass die Neueinspielung abgesehen von den aufnahmetechnischen Fortschritten auch musikalisch eine echte Alternative darstellt.
Das Klangbild ist lichter und klarer, auch weiträumiger. Man hört so viel mehr: neue Instrumentalfarben, harmonische Kontrapunkte und viele andere Details der komplexen Partitur. Die einzelnen Abschnitte gewinnen größeres Eigenleben und bringen je nach Story das asiatische oder afrikanische „Lokalkolorit“ prägnant heraus. Ebenso wichtig ist freilich der lustvolle, vital-sinnliche und zugleich präzise Zugriff: die federnde Rhythmik, die sich in den dichteren Partien zu einem dionysischen Taumel steigern kann, und der dramatische Puls, durch den die Musik erst zum Klangtheater wird – alles ist da.
Diese „Delusion of the Fury“ ist wild und rau, verspielt und magisch! Die Ausführenden traktieren überdies nicht nur die kapriziösen Instrumente perfekt, sie sing-sprechen auch z. B. den Chorpart plastisch und spannungsvoll. So klingt das Werk authentisch im besten Sinne.
Ein Meilenstein in der Partch-Diskographie – mögen weitere Aufnahmen dieser packenden „Outsider“-Musik auf einem solchen Niveau folgen!
Georg Henkel
Besetzung |
Ensemble Musikfabrik
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