Veranstaltung ohne Veranstalter - Mehr Hakenfelde belebt die Spandauer Waldsiedlung mit einer Jazz Matinee
Musik findet im Großen, im Ganz-Großen, in Mega-Events, aber manchmal auch im Kleinen und Feinen oder ganz Kleinen statt. Norbert hat sich bei einem Mini-Festival im Nachbarschaftsbereich umgesehen. Auch das ist Musikkultur. Normalerweise ist die Verbreiterung des Eschenwegs am Erlenweg in der Waldsiedlung, Berlin-Hakenfelde, eine mit Mittelklasse-Blech zugeparkte Asphaltfläche. Der Bitte einiger Anwohner, die Fahrzeuge am ersten Feriensonntag doch anderswo zu parken, wurde aber ausnahmslos nachgekommen. Und so konnte in den Morgenstunden an einem Ende des Platzes ein kleines Zelt aufgestellt werden, dekoriert mit zwei Topfpalmen. Dazu kam ein längerer Tisch an der Seite des Platzes. Alles andere wurde dem Leben überlassen. Denn einen eigentlichen Veranstalter hatte diese erste Jazz Matinee nicht. Mehr Hakenfelde ist eine Nachbarschaftsinitiative, die versucht das Gemeinschaftsleben der Siedlung zu beleben, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in genossenschaftlicher Weise entstanden ist und der Idee englischer Gartenstädte folgt. Der Jazz Matinee war einige Wochen zuvor ein Straßenflohmarkt in „der guten Stube“ der Siedlung, dem Birkenweg, vorausgegangen. Ein Spieletag, verteilt auf verschiedene Orte in der Siedlung, soll im September folgen. Mehr Hakenfelde ist dabei vor allem Impulsgeber. Ob tatsächlich etwas stattfindet, liegt ganz an den Bewohnern und Bewohnerinnen der Siedlung. Bislang hat das gut geklappt. Beim Straßenflohmarkt hatten genügend Anwohner Tische mit den Dingen bestückt, die zuhause mehr oder weniger im Wege standen, um einen halbstündigen oder auch längeren Aufenthalt nicht langweilig werden zu lassen. Und auch an diesem Sonntag veränderte sich der Platz schnell.
Zwischen 10 und 11 füllte sich der Platz. Gartenstühle und Liegen wurden herangeschleppt und verwandelten ihn in ein bunt gemischtes bestuhltes Festivalgelände. Auf dem Tisch am Rande erschienen nach und nach Kaffeekannen und selbst gebackene Kuchen. Mehr Hakenfelde hatte die Bühne bereitet. Die Waldsiedlung hat sie gestaltet und gefüllt. Ein Nachbar hatte sein Haus geöffnet, um denen, die am anderen Ende der Siedlung wohnen, den Weg zu sanitären Einrichtungen zu verkürzen. Ein anderer hatte einen Grill aufgebaut und für Würstchen und gekühlte Getränke gesorgt. Um kurz nach 11 Uhr begann das musikalische Programm, von dem niemand vorhersagen konnte, wie es letztlich aussehen würde. Denn auch hier hatte Mehr Hakenfelde alle Türen offengehalten. Es hätten sich auch noch während des Tages spontan Beiträge einfügen lassen. Allerdings blieb es letztlich bei zwei Auftritten. Zum Auftrag spielten Stand-Arts, eine professionelle Jazz- und Swing-Band, die seit zwanzig Jahren in unterschiedlichen Besetzungen nicht nur in Berlin unterwegs ist. Dieser Auftritt war schon bekannt, als die Infozettel für die Jazz Matinee, die in der Siedlung verteilt wurden, gedruckt wurden. Später stieß noch der Gitarrist und selbständige Musiklehrer Thomas Müller dazu, der in der Waldsiedlung lebt.
Stand-Arts spielen in unterschiedlichen Besetzungen. In Hakenfelde traten sie als Trio an. Im Zentrum dabei Band-Chef Andreas Gäbel an der E-Gitarre; ihm zur Seite Axel Obert am Kontrabass. Die Frontposition wurde von der Polin Michelle Palka übernommen, die noch so neu dabei ist, dass sie noch gar nicht auf der Hompage erscheint. In Polen sei sie eine recht bekannte Größe, verriet Gäbel. Stand-Arts nahmen den Titel des Festivals wörtlich und lieferten ein Programm mit Jazz-Standards, das beim Publikum sehr gut ankam, wenngleich sich ein Besucher, der dem Jazz offenbar nicht so nahestand, beschwerte, dass man ja gar nicht mitsingen könne. Das war auch gar nicht nötig. Die eher zerbrechlich wirkende Sängerin intoniert mit einer erstaunlichen Kraft und viel Soul und Gefühl in der Stimme. Wer im Vorfeld möglicherweise erwartet hatte, dass man sich hier mit einer Kleingarten-Vereins-Qualität zufriedengeben müsse, sah sich bald eines Besseren belehrt.
Auch wenn das Programm sich nicht zum Mitsingen eignete; Mitgehen war allemal möglich. Und so schwangen die Hüften, die Finger schnipsten und einzelne Paare wagten auch ein kleines Tänzchen. Und das bei einem sehr gemischten Publikum, das vom Vorschulalter bis weit in die Rentenjahre hinein reichte. So ist es auch keine große Überraschung, dass zwischen den bunt gemischten Sitzgelegenheiten eine ganze Reihe von Rollatoren geparkt waren. Ohne Zugabe wurden Stand-Arts nicht gehen gelassen – und so musste Thomas Müller ein paar Minuten länger als erwartet auf seinen Auftritt warten. Aber nach einer entspannten Umbaupause war es dann so weit. Jazz würde er nicht liefern, kündigte er an. „Das kann ich gar nicht spielen.“ Er würde also darum herum spielen und erst einmal die Wurzeln des Jazz bloß legen. So ging es mit Country und Blues los. Der Opener regierte mit der Forderung nach „Freedom and Justice“ auf die aktuelle Weltlage.
Müller sorgte schnell dafür, dass die Mitmach-Willigen im Publikum zu ihrem Recht kamen, indem er erklärte, dass in seinem Jazz-freien Programm das Mitklatschen erlaubt sei. Was vom sitzenden, stehenden und liegenden Publikum auch schnell befolgt wurde. Als dann „Cocaine“ erklang, gab es auch die ersten Mitsingenden, wenngleich einige von denen, die ich gehört habe, statt Claptons Text, den Müller vortrug, Hannes Waders Übersetzung sangen. Um 14 Uhr war Schluss und die Initiatoren waren mehr als zufrieden. Sämtliche Würstchen waren verzehrt. Nicht eine einzige Flasche war in Scherben gegangen. Und weniger als eine Stunde später war der Platz leergeräumt – und nicht ein einziges Stück Abfall war zurückgeblieben. Vor allem aber hatten etwa 100 Waldsiedler – plus einige Gäste – eine vergnügliche Matinee. Und viele hatten in den Gesprächen untereinander Nachbarn kennen gelernt, an denen sie bislang bestenfalls vorbei gegangen waren, oder die sie noch nie gesehen hatten. Norbert von Fransecky |
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