Eine Aura spezieller Art: Das Chicago Youth Symphony Orchestra spielt im Gewandhaus Barber, Walker, Rands und Mahler
Fast exakt 15 Jahre zuvor, am 23.06.2007, hatte das Chicago Youth Symphony Orchestra bereits im Gewandhaus gastiert, damals im Rahmen eines sich über drei Saisons erstreckenden Jugendorchester-Zyklus des Gewandhauses. Im Rahmen seiner Jubiläumstour aus Anlaß des 75jährigen Bestehens ist Leipzig nun einer der vier europäischen Spielorte des Orchesters neben Berlin (von dort stammen die Bilder in diesem Artikel), Prag und Wien, und es wurde sogar ein liebevoll gestaltetes Tourmotiv entworfen, bei dem nur nicht ganz so klar ist, welches der drei Symbole (Edelweiß, Brezel und Uhrwerk) denn welchem der vier Orte zugeordnet werden soll – klarer wird’s, wenn man die drei Länder als Aufteilungsgrundlage nimmt, wenngleich nun gerade weder Berlin noch Leipzig eine sonderlich innige Beziehung zur Brezel pflegen, aber das Prager Uhrwerk direkt paßt und Edelweiß zumindest nicht gar zu weit entfernt von Wien tatsächlich auf den ausstreichenden Ostalpengipfeln wächst. Im Orchester spielen hauptsächlich Musiker im Alter von 15 bis 18 Jahren – das war auch 2007 schon so (mit „Ausreißern“ bis auf 13 herunter), und so ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand von damals auch heute noch mitwirkt, sehr gering, vom Dirigenten abgesehen. Ergo stellt auch das erste Stück praktisch für alle Neuland dar, obwohl es bereits 2007 das Eröffnungsstück bildete: der Essay No. 2 op. 17 von Samuel Barber, den Dirigent Allen Tinkham auswendig dirigiert, wie auch zwei der drei noch folgenden Stücke. Die sehnsuchtsvolle Holzkammermusik führen die Streicher in Richtung Tutti fort, wobei einige der Tuttipassagen mit bedrohlichem Gedonner ausstaffiert wurden und ein heftiger Schlag alle aus einer gewissen Behaglichkeit weckt. Flottes Holzgemurmel macht Platz für einige weite Klanglandschaften, die Tinkham und seine Musiker gekonnt ausbreiten und letztlich zu einem von zwei großen Bombastausbrüchen führen. Normalerweise sitzt der Rezensent im Gewandhaus auf der Saalempore, also deutlich weiter unten als sein diesmaliger Rangplatz, und dort oben ist der Bombastfaktor noch nicht allumfassend, was weiter unten anders gewesen sein könnte. Macht freilich nichts – dem munteren Hin und Her zu folgen macht trotz dessen Ziellosigkeit auch Spaß, und der zweite Bombast mit großem Gong gerät noch raumgreifender und für die weiter unten Sitzenden daher sicherlich sehr monumental. Das Publikum im sehr ordentlich gefüllten Gewandhaus (die Orgelempore und jeweils die halbe Orchesterempore sind leer, ansonsten ist bis auf einige Rangplätze alles besetzt) zeigt sich angetan und spendet reichlich Applaus. Der Rezensent hat bisher noch keines der fast 100 von George Walker komponierten Werke gehört – „Lyric for Strings“, geschrieben 1941 im Gedenken an seine Großmutter, bildet also eine Premiere für ihn. Zwar gibt es auch Menschen, die eher einen flotten Marsch als Gedenkwerk wählen würden, wenn sie denn eine Wahl hätten, aber Walkers Großmutter zählte offenbar nicht dazu. Jedenfalls macht sich schnell eine wunderbare entspannte Stimmung breit, Tinkham und seine Musiker zaubern eine weite ruhige Streicherlandschaft hin, und so manches Element wird ganz behutsam hingetupft. Nur die Kontrabässe sägen mal kurz dazwischen, was aber schnell wieder zurückgeführt wird und in der Nähe des Stillstands landet, wonach sich lediglich noch einmal kurz Munterkeit breitmacht, aber gleichfalls zeitnah und gekonnt zurückgeführt wird. Beim Entschwinden gen Nichts steht die Spannung prima – jenseits der autarken Qualität eine gute Übung für das, was da nach der Pause noch kommt, auch wenn die meisten der jetzt wieder fleißig Applaudierenden das noch nicht ahnen. Vorher erklingt aber noch „AURA“ von Bernard Rands, eine Auftragskomposition des Orchesters aus Anlaß des 75jährigen Bestehens und bei den Konzerten in Berlin und Leipzig nun erstmals in Deutschland aufgeführt. Das ist das einzige Werk des Abends, das Tinkham nicht auswendig dirigiert, und es dauert ewig, bis die Noten fürs Dirigentenpult gebracht werden, was im Publikum für Heiterkeit (und Szenenapplaus für die Überbringerin) sorgt. Irgendwann geht es dann doch los mit dem Stück, das laut Programmheft eine vorhandene, aber nicht greifbare Energie musikalisch darstellen soll. Dieses Ziel erreicht das Stück gut – es gehorcht keinerlei klassischen Dynamikprinzipien, und immer dann, wenn man eine Entwicklung nach althergebrachten Mustern erwartet, schwenkt der Komponist um und schreibt etwas völlig anderes, was mit dem Begriff „logische Entwicklung“ allenfalls bedingt zu fassen ist. So flutscht einem das Stück förmlich immer wieder zwischen den Fingern durch, und Rands läßt selbst beste Möglichkeiten, hier etwas Greifbares zu erzeugen, etwa den Ansatz zu einem Duell zweier der vier vielbeschäftigten Schlagwerker, ungenutzt. Auch die Anflüge von Eskapismus weiten sich nie zu richtigem solchem aus. So entsteht ein auch harmonisch recht abseitiger Mix aus „Star Wars“-Soundtrack und Versatzstücken der letzten 150 Jahre Orchestermusik, den Tinkham gefühlt zusammenhält, so dass das Ganze wenigstens nicht planlos wirkt – das Chaos hat hier offenbar Methode. Nach drei abgehackten Kurzmotiven ist das Werk plötzlich zu Ende und sorgt für eher verwirrten Applaus. Nach der Pause steht die Sinfonie Nr. 1 D-Dur von Gustav Mahler auf dem Programm – für ein Jugendorchester eine äußerst anspruchsvolle Wahl, ist es doch ein Werk, das maßgeblich von Einzelleistungen geprägt wird, für die man entsprechend souveräne Musiker braucht. So ein Werk von 13- bis 18-Jährigen spielen zu lassen spricht also für großes (Selbst-)Vertrauen und kann schiefgehen, wenn man sich die Version des Boston Youth Symphony Orchestra anno 2008 im Rahmen des erwähnten Jugendorchesterzyklus im Gewandhaus in Erinnerung ruft, die einen teils sehr teutonischen Tonfall annahm und hier und da in Überforderung des Orchesters zu münden schien, trotz so mancher guter Passage und einigen Geniestreichen. Wie werden sich nun die jungen Chicagoer schlagen? Zunächst reagieren sie souverän: Während des Ausrollens des entrückten Streicherteppichs zu Beginn des 1. Satzes trampeln noch ein paar Zuspätkommer hinten über die Treppen des Ranges, aber ein Nachlassen der Konzentration der Musiker bleibt ebenso aus wie im Verlaufe der Sinfonie bei etlichen heftigen Hustern mitten in ruhig-entrückte Passagen hinein. Klar wackelt da mal ein Einsatz leicht, aber was die Hörner bei ihren ersten Einsätzen da anstellen, das können (mit Ausnahme eines einzigen zu harten Einsatzes) auch die großen Profis nicht besser. Das Fernorchester sorgt für Irritation beim nicht werkkundigen Teil des Publikums, aber die Feinabstimmung paßt auch hier, ebenso wie im munteren pastoralen Treiben, das Tinkham durchaus nicht zu langsam nimmt, um die Spannkraft nicht überzustrapazieren. Nicht alle Einzelleistungen klappen auf den Punkt, aber das Gesamtbild wird dadurch kaum beeinträchtigt, zumal die Chicagoer einen Tuttiübergang wie aus dem Lehrbuch hinlegen und sich Tinkham auch im folgenden Klangmassemanagement keinerlei Blößen gibt. So herrscht im Satzfinale derart viel Leben, dass der konzertunerfahrene Teil des Publikums prompt zu applaudieren beginnt. Das Scherzo nimmt Tinkham rhythmisch sehr stark akzentuiert, aber ohne eine imaginäre Grenze zu überschreiten – das Gesäge ist heftig, aber passend. Das Seitenthema zieht der sehr bewegungsaktive Dirigent den Musikern förmlich aus der Nase, und nach einem etwas angestrengt anmutenden Übergang gelingt ein wunderbares lockeres Trio, zu dem der Dirigent auf seinem Pult tänzelt. Die Schwingungsansätze meistern die jungen Musiker ähnlich souverän wie die aus dem Ärmel geschüttelte Beschleunigung, und nach einem wieder leicht zu angestrengten Übergang zur Scherzo-Reprise nimmt Tinkham diese einen Tick schärfer als den ersten Teil, aber erneut in gebotenen Maßen. Kritischster Moment der ganzen Sinfonie ist sicherlich die Entwicklung des Adagios. Hier tritt nun das Phänomen auf, dass der Solokontrabassist ganz leicht neben der Ideallinie fährt, aber das Ergebnis trotzdem Gänsehaut erzeugt. Auch in der Folge wackelt’s hier und da leicht, gerät der eine oder andere Einsatz einen Tick zu hart, aber keiner fällt in den Abgrund, und so mancher spielt locker auf Profiniveau – das Gesamtbild stimmt jedenfalls ausnehmend positiv. Die böhmischen bzw. krainerischen Elemente bringen die Chicagoer gar so authentisch, als stünde ihr Proberaum in Ostrava oder Maribor, und die geforderte Lieblichkeit zaubern sie her, als wäre das die leichteste Aufgabe der Welt. Die Schärfung der Wiederkehr des Bruder-Jakob-Themas gelingt planmäßig, Tinkham führt gekonnt durchs polyphone Unterholz und findet auch den richtigen Weg ins Nichts des Satzschlusses, wo die große Trommel die Seele des Hörers streichelt, was sie bekanntlich eher selten darf. Wie schon nach den ersten beiden Sätzen bricht auch nach dem dritten Applaus los – Tinkham hätte die Pause vielleicht noch kürzer nehmen sollen, denn so spielt er mitten in die ersten Klatscher hinein, schafft es aber immerhin, klarzumachen, dass es direkt mit dem Finalsatz weitergeht, und die Kontrastwirkung des großen Gedonners zur finalen Lieblichkeit des Adagios erreicht die planmäßige Größe problemlos. Die Anflüge von Monumentalität besitzen gebührendes Niveau, die große Trommel kommt ihrer vernichtenden Wirkung nach, und auch der große Zusammenbruch gelingt wie aus dem Lehrbuch. Das zweite Thema nimmt Tinkham weit zurück, schafft große Mäanderflächen und läßt das Orchester große Sinistrität hervorzaubern, als das Streicherflächenkonstrukt aus dem ersten Satz wiederkehrt. Auch aufs große Massenmanagement versteht er sich hier gleichfalls: Den ersten Ausblick aufs Finale nimmt er schon mit viel Power, läßt aber noch Steigerungsmöglichkeiten offen, was hier auch qualitativ zu verzeichnen ist, da einige der Bläser an Grenzen stoßen. Die überschreiten sie dann im großen Finale aber problemlos: Die aufstehenden Hornisten spielen förmlich um ihr Leben und gewinnen noch an Wirkung, indem sie nicht konzentriert in einer Ecke sitzen, sondern eine komplette Querreihe vor dem Schlagwerk einnehmen, und ihre Blechkollegen schrauben das Niveau auch nochmal hoch, wenngleich der eine oder andere noch ein bißchen ins Schwimmen gerät. Tinkham setzt den Dynamikgipfelpunkt korrekterweise hier (am Platz des Rezensenten bleibt immer noch eine Reserve übrig, aber weiter unten wird vermutlich das sinnvolle Maximum erreicht worden sein), und die immense Intensität, die die jungen Musiker trotz leichter Wackler hier erreichen, stimmt ausgesprochen positiv und entlockt selbst dem sonst eher geerdeten Rezensenten spontan eine Becker-Faust samt „Ja!“-Ausruf. Klar, in der Gesamtbetrachtung bleibt Luft nach oben, aber das erreichte Niveau verdient allemal Achtung, und die Geniestreichdichte ist höher als 2008 bei den Bostonern (und sehr viel höher als bei Brahms’ 1. Sinfonie, die die Chicagoer 2007 gespielt hatten – aber das liegt in diesem Falle auch am Werk). Der frenetische Applaus wird fast umgehend mit zwei Zugaben beantwortet, und deren letzte verarbeitet Material aus Leonard Bernsteins „West Side Story“, meist flotten Orchesterjazz bietend, eine der Schlagwerkerinnen an ein reguläres Jazzschlagzeug wechseln sehend und alle gemeinsam zweimal „Mambo!“ shouten lassend – ein hochwertiger Abschluß eines interessanten Konzertes. Zum 80. wieder? Gern! Roland Ludwig |
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