Griegs fantastische Agonie: Sommersemesterkonzert des Leipziger Universitätsorchesters im Gewandhaus




Info
Künstler: Leipziger Universitätsorchester

Zeit: 01.07.2018

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Martín Rebaza Ponce de León (www.instagram.com/martin.rebaza/)

Internet:
http://www.uni-leipzig.de/orchester

Im Sommer 2018 spielt das Leipziger Universitätsorchester statt nur eines Konzertprogramms, wie das sonst Usus ist, gleich zwei – oder genaugenommen anderthalb: Neben dem üblichen Semesterkonzertprogramm steht eine Woche zuvor bereits das Abschlußkonzert der Edvard-Grieg-Festtage in Leipzig an, und hier musiziert das Orchester erstmals in einer markanten neuen und doch wieder nicht neuen Lokalität, nämlich im Paulinum, also praktisch der wiederaufgebauten Universitätskirche, 50 Jahre nach deren Sprengung durch die DDR-Stadtoberen. Die Grieg-Festtage wiederum stellen keinen Zufall dar: Erstens gedenkt die Musikwelt anno 2018 des 175. Geburtstages des norwegischen Nationalkomponisten, und zweitens hatte dieser weiland in Leipzig am Konservatorium studiert, auch wenn das rückblickend nach eigener Einschätzung keine sonderlichen Erfolge gezeitigt hatte und seine daraufhin entstandene Aversion gegen die Messestadt erst wieder in Zuneigung umschlug, als er im Leipziger Verlag C. F. Peters einen hervorragenden Geschäftspartner fand, der Nachhaltiges für die Verbreitung und Popularisierung der Griegschen Kompositionen leistete (und auch selbst nicht schlecht daran verdiente).

Der Rezensent hatte eigentlich beim Grieg-Konzert des Universitätsorchesters anwesend sein wollen, aber eine gesundheitliche Unpäßlichkeit verhinderte dies. Eine Woche später beim regulären Semesterkonzert ist er aber da, und da Griegs Klavierkonzert in beiden Programmen steht, bekommt er so zumindest noch einen Teil des Verpaßten nachträglich serviert, wenngleich unter vermutlich deutlich anderen Soundbedingungen als im Paulinum (er hat bisher dort noch kein Konzert besucht und kann daher die akustischen Verhältnisse noch nicht aus eigenem Erleben schildern). Das Gewandhaus-Programm aber hebt nicht mit Grieg an, sondern mit einem Werk Alfred Schnittkes: dem Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agony“. Während kaum ein auf seinen Ruf als „ernsthaft“ bedachter Komponist der westlichen Hemisphäre Filmmusik schrieb, war es in der Sowjetunion gang und gäbe, dass selbst die führende Riege der Komponisten auch auf dem Filmmusiksektor arbeitete, was paradoxerweise beispielsweise Dmitri Schostakowitsch das Leben rettete, da er nach der Verdammung seines „ernsten“ Schaffens nach Stalins Meinung zumindest auf diesem Sektor noch etwas Nutzbringendes leisten konnte. Ganz so existentiell war die Situation Alfred Schnittkes zumindest in dieser Hinsicht nicht, aber dafür in einer anderen: Er verdiente mit seinem Filmmusikschaffen seinen Lebensunterhalt, was mit seinen avantgardistischen „ernsten“ Werken, die sich so gar nicht in den vorgegebenen Weg des sozialistischen Realismus einpassen wollten, kaum möglich war. Im Film dagegen genoß der Komponist viel größere Freiheiten: Mußte er eine Katastrophe untermalen oder einen Bösewicht musikalisch kennzeichnen, bot ihm das kreative Optionen, die im „neutralen“ Schaffen eher unerwünscht waren.
„Agony“ ist ein 1975 gedrehter Film von Elem Klimow, der sich mit Grigori Rasputin und dessen Weg an den Zarenhof in dessen letzten Jahren während des Ersten Weltkriegs auseinandersetzt, und der an diesem Abend erklingende Tango untermalt eine Festszene, mit einem entrückten Celesta-Teil anhebend und dann schrittweise intensiver und lauter werdend. Das Entwicklungs- wie das Musiziertempo erscheinen oberflächlich betrachtet bedächtig, aber unterschwellig legt Dirigent Frédéric Tschumi schon hier einen unwiderstehlichen Zug an, der sich im Verlauf der folgenden Dynamiksteigerungen auch deutlicher Bahn bricht, bevor dann offensichtlich die ganze Festgesellschaft das Tanzbein schwingt. Ein sehr groß besetztes Orchester zum Grooven zu bringen gehört zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt, die man einem solchen Klangkörper und seinem Dirigenten stellen kann – Tschumi und die Leipziger Studenten meistern die Herausforderung prima, auch wenn sie von einem möglichen Dynamikgipfel noch ein gutes Stück entfernt bleiben. Die Rückführung geschieht erstaunlicherweise relativ symmetrisch, also ausgedehnt und stufenweise mit der Celesta als Ausklingeffekt, während das Programmheft beschreibt, dass auf dem Fest eine Schlägerei ausgebrochen sei, die sicherlich eher einen Abbruch provoziert hat. Der Rezensent hat den Film aber nicht gesehen und kann daher zur konkreten Einbindung ins Geschehen keine Aussage machen – vielleicht hat Schnittke das Stück für die Orchestersuite auch etwas anders arrangiert als im Film.



Edvard Griegs Klavierkonzert a-Moll op. 16 sollte der einzige Beitrag des Norwegers zu dieser Gattung bleiben, obwohl er damit vielerorts rauschende Erfolge feierte – interessanterweise zunächst nicht in Leipzig, wo die erste Aufführung im Gewandhaus bei Publikum wie Kritik durchfiel. Mittlerweile hat sich das Bild natürlich etwas gewandelt, das Werk ist längst auch in der Messestadt ein „Hit“, und obwohl man es nicht oft auf den Spielplänen findet, nimmt man die Gelegenheiten, es zu hören, gern wahr. Solist an diesem Abend ist der Koreaner Juyoung Park, derzeit Meisterklassestudent an der hiesigen Musikhochschule, und der macht gleich in den ersten Akkorden des ersten, Allegro molto moderato überschriebenen Satzes, dem „Grieg-Motiv“, die Marschrichtung klar, indem er das Motiv sehr akzentuiert spielt, was Tschumi für das Orchester als Grundhaltung aufnimmt. Das schließt natürlich einen grundsätzlichen Fluß nicht aus, wenngleich der etwas Zeit braucht, bis er zu fließen beginnt und sich beispielsweise in den Dialogen von Pianist und Hörnern ein Miteinander einstellt. Richtig Breite bringen dann allerdings die Celli ins Spiel, und von da an weicht Tschumi die genannte Grundhaltung etwas auf. Zudem schafft der Dirigent eine sehr gute Klangdosierung, so dass der Pianist selbst im recht voluminösen Satzschluß nicht untergeht, und der bedankt sich beispielsweise in der perlenden Kadenz mit einem exzellenten Mix aus Spannung und Energie. Auch viele der weiteren Dialoge mit einzelnen Orchestergruppen gelingen traumhaft gut, lediglich mit den Hörnern wird der Pianist nach wie vor kein Freund.
Die Streichereinleitung des Adagios läßt Tschumi äußerst fahl, aber nicht zu entrückt spielen, und der Übergang in den ersten Klaviereinsatz gelingt mit enormem Spannungsaufbau – das war im 1. Satz hier und da noch eine Baustelle geblieben. Und die Aufarbeitung ebensolcher geht weiter: Sogar die Hörner wirken jetzt besser ins Geschehen eingebunden, und die Gestaltung des Grundtempos als schleppend, aber nicht zäh verstärkt den im Programmheft beschriebenen Eindruck einer nordischen Mittsommernacht, also weit von den existenziellen Abgründen entfernt, in die mancher Komponistenkollege Griegs in seinen Adagio-Sätzen blickte.
Der dritte Satz, Allegro moderato molte e marcato, hängt attacca an, wobei der Stimmungsumschwung so harsch ausfällt, dass der Pianist die Streicher erstmal vollkommen niederdrückt, aber dann im Seitenthema intensiv den dort dominierenden Flöten lauscht. Im großen langsamen Teil kehrt die Entrücktheit zwar nochmal zurück, aber die Lockerheit in der Wiederkehr des ersten Teils ist ebenso schnell wieder hergestellt, wenngleich der Biß im Gesamtbild etwas zunimmt, wohingegen der folkige Touch zumindest an diesem Abend ziemlich in den Hintergrund rückt. Dafür überzeugt die Dynamikgestaltung rings um die folgenden Ausbrüche, wenn sich etwa die Streicher scherenartig den Weg freischneiden. Nur gegen das feierliche Breite ausrollende Orchester hat der Pianist akustisch dann doch keine Chance mehr – trotzdem gelingt die Ausbildung von virtueller Größe im Satzschluß, die mit viel Applaus honoriert wird. Der erweist sich allerdings als nicht sonderlich ausdauernd, und der Solist verzichtet auf eine Zugabe.



Nach der Pause erklingt die Symphonie fantastique op. 14 von Hector Berlioz, und auch dieses Stück, ein frühes Exempel der Programmusik und in dieser Herangehensweise gar nicht so weit von Beethovens 6. Sinfonie, der Pastorale, entfernt, hatte es anfangs im Gewandhaus äußerst schwer, obwohl man das Beethoven-Werk dort wiederum sehr schätzte. Aber auch hier ist zu konstatieren, dass es diese weiland umstrittene Musik mittlerweile längst in den großen sinfonischen Kanon geschafft hat, und so erklingt die Symphonie fantastique aktuell innerhalb von nicht einmal drei Monaten gleich zweimal im Gewandhaus: am dritten Septemberwochenende mit dem Gewandhausorchester sowie eben an diesem ersten Julisonntag mit dem Leipziger Universitätsorchester. Letzteres bringt gleich zu Beginn des ersten Satzes „Reveries – Passions“ das schwierige Kunststück fertig, trotz riesiger Besetzung eine gehörige Portion Eskapismus in die Streicher zu legen. Tschumi nimmt die titelgebenden Träumereien aber nicht zu schleppend, läßt gekonnt zu mehr Vitalität umschalten – und wie der Dirigent die Riffs förmlich aus den Violoncelli herauszerrt, das unterstreicht seine Führungsqualitäten. Die interne Dynamik dieses Satzes ist durchaus nicht einfach zu beherrschen, aber der Schweizer findet einen guten Weg und holt aus irgendwelchen Quellen immer noch Steigerungsmöglichkeiten hervor, wenn er solche braucht. Und so eine enorme Spannung in den langsamen Satzschluß zu bringen, obwohl einige Wackler im Orchester und einige Huster auf den Rängen dieses Vorhaben gefährden, muß man auch erstmal schaffen.
„Un Bal“ nennt der Komponist den zweiten Satz – tanztechnisch hat sich das Orchester bei Schnittke ja schon „warmgespielt“, für diesem Ball hier aber verlangt Berlioz durchaus ausgeprägtere Störfaktoren im Wechsel mit großer Eleganz, was Tschumi und seine Studenten indes gekonnt meistern. Leichte Unsicherheiten zeigen sich im kurzen Piano-Intermezzo, trüben die dort geforderte Stimmung aber nicht, und die Energie im Satzschluß findet die genau richtige Dosierung.
Die „Scène aux Champs“ an dritter Satzposition hebt mit einem Duett Oboe/Fernoboe an, dessen Umsetzung an diesem Abend trefflich gelingt, und weil das so ist, paßt auch der Eindruck der weiten Streicherflächen, die gleichfalls ein Gefühl räumlicher Entfernung transportieren, bestens. Trotz Tempovariabilität bleibt der Grundgestus lange entspannt, erst das Tiefstreichergesäge sorgt für die Einleitung von Dramatisierungsschritten, die freilich nicht nachhaltig sind und bald abermaliger Entspannung weichen, auch wenn noch nicht alle Instrumente den angestrebten Grad erreichen. Dafür ist das, was die Oboe (diesmal ohne fernen Duettpartner) und die Schlagwerker im Satzschluß abliefern, vom Allerfeinsten: ein exzellent umgesetztes subtil-finsteres Grollen als Basis der unbeantwortet bleibenden Duettversuche.
Der „Marche au Supplice“, also der Gang zum Richtplatz, gerät in Tschumis und des Orchesters Lesart angemessen düster schreitend, beinhaltet allerdings eine Art distanzierten Witz, in dem Fagotte und Trompeten fast die Schostakowitsch-typische Ironie vorwegnehmen. Auch ansonsten weist die Komposition wie die Interpretation dieses Abends weit in die Zukunft – noch nicht mit den Kontrastwirkungen der einzelnen Orchesterschläge, auch noch nicht mit dem voluminösen Bombastfaktor, sondern mit der den Satz beendenden Hinrichtungsszene, die für 1830 in ungewöhnlicher Eindringlichkeit auskomponiert ist und auch an diesem Abend in Leipzig ihre Wirkung nicht verfehlt.
Das wäre eigentlich schon ein gekonnter Schluß der Sinfonie gewesen, aber eine so nihilistische Herangehensweise hat sich Berlioz dann doch nicht getraut und schickt seinen fieberträumenden Protagonisten daher zum Schluß noch in einen „Songe d’une Nuit de Sabbat“, läßt ihn also von einem nächtlichen Hexensabbat träumen. Das nun wieder bietet dem Komponisten eine dankbare Möglichkeit zur Erprobung auch abstruserer Einfälle (es zeigen sich überraschende Parallelen zu Schnittkes Filmmusikschaffen), und dass das Orchester die mit diebischer Freude umsetzt, war zu erwarten. Schon aus den Tiefstreichern kommt eine angemessene Schauerlichkeit, die große Trommel agiert teppichlegend sehr effektiv, die Glocken erklingen von draußen, und angeführt vom Kontrafagott erzeugen die Fagottisten ziemlich urigen Lärm. Tschumi wählt ein recht rabiates Tempo, das einige Anforderungen an die Spielsicherheit stellt, aber diese werden problemlos erfüllt, bis hin zum witzigen Kratzeffekt aus den Violinen und Bratschen mitten im Grande Finale. Allenfalls die Blechchoräle wären intensitäts- wie spieltechnisch noch steigerbar gewesen, aber das bemerken die Beteiligten auch, und der große Blechchoral im Bombastfinale steht wie aus Stein gemeißelt vor dem Hörer. Trotz überwältigenden Energietransports bleibt die Finalstruktur trotzdem jederzeit erkennbar, und sehr viel Jubel belohnt Dirigent und Orchester für diese Wiedergabe – den lautesten Teil bekommen verdientermaßen die enorm guten Fagottisten ab.

Nun bleibt noch die spannende Frage zu beantworten, was es diesmal als Zugabe gibt. Früher hatte sich das Orchester verkleidet und schauspieluntermalt irgend etwas Humoristisches gespielt – in den letzten beiden Konzerten war das aber jeweils einer „ernsten“ Zugabe gewichen: einem Rheinberger-Choral im Sommer 2017 (a cappella von den Instrumentalisten gesungen) und einer der Elgarschen Enigma-Variationen im Winter 2018, gespielt ohne jegliche Einlagen. Das Motto heißt diesmal allerdings „Back to the roots“: Im erwähnten Paulinumskonzert war Griegs wohl populärstes Werk, die beiden Peer-Gynt-Suiten, erklungen, und die Studenten nutzen die Möglichkeit, „In der Halle des Bergkönigs“ hier gleich noch als Zugabe zu verbraten und wieder mit Humor auszustaffieren: Diverse Orchestermitglieder verkleiden sich mittels Zipfelmützen unterschiedlicher Farben als Zwerge (es sind deutlich mehr als sieben), Dirigent Tschumi bekommt eine Krone aufgesetzt, die aber offenbar vorher nicht genau vermessen worden ist, weshalb sie nicht richtig sitzt, und Schneewittchen entpuppt sich als bindungsunwillig oder anderweitig indisponiert, was in der Schlußszene zu einer Ohrfeige für einen „Herzensbrecher“ führt. So geht ein musikalisch reizvoller Abend launig zu Ende.


Roland Ludwig



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