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Aufstieg und Fall der Klassikindustrie
Info |
Autor: Lebrecht, Norman
Titel: Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie
Verlag: Schott
ISBN: ISBN 978-3-7957-0593-0
Preis: € 22.95
400 Seiten
Internet: Schott Musik
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Wenn man mit Norman Lebrechts Klassik-Kolportage Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie durch ist, bleibt vor allem eine Frage offen: Wie konnte aus einem solchen Sumpf aus Inkompetenz, Größenwahn und Kommerzdenken überhaupt eine so beachtliche Zahl von genialen Künstlern und qualitätvollen Einspielungen hervorgehen? Die von Majors bestimmte Branche scheint den Keim ihres Untergangs praktisch schon seit ihrer Gründung in sich getragen zu haben. Lebrecht ist angetreten, ihn uns zu enthüllen.
Seine Schlüssellochperspektive bietet freilich weniger eine Analyse als eine Klatschkolumne, in der alte Nazirecken, schwule Decca-Boys, soziopathische Maestros, geldgeile Künstler und größenwahnsinnige Produzenten auftreten. Wenigen wirklich kompetenten Persönlichkeiten steht ein Heer von Profilneurotikern gegenüber. Das Buch wäre ohne diese Details ziemlich dünn geworden. Doch gerade der Tratsch sorgt dafür, dass man die Darstellung mit lustvollem Gruseln liest. Vieles entzieht sich freilich einer genaueren Überprüfung, weil es aus internen mündlichen Quellen stammt. Anderes wird aufgebauscht, frei nach dem Motto: Es ist schlimm, aber ich kann es noch schlimmer erscheinen lassen. Der labyrinthische Staccato-Erzählstil macht die Lektüre dabei nicht gerade einfach. Die zweite Hälfte des Buches besteht aus 100 ausführlich vorgestellten Aufnahmen, die laut Lebrecht Schallplattengeschichte geschrieben haben, sowie 20 Flops, die trotz Geld und künstlerischer Potenz paradigmatisch für das ästhetische Versagen der Klassikbranche seien. Über die Auswahl darf diskutiert werden, zumal Lebrecht auch hier nicht auf Pikanterien verzichtet.
Sein Fazit, dass die kulturellen Zwecke durch kommerzielle vollständig überlagert worden seien und Geldgier, Überproduktion, das Internet und ein Mangel an Ideen für den Niedergang der Klassikindustrie zu verantwortlichen seien, ist nicht neu und trifft im Zeitalter renditefixierter Investoren auch auf andere Kulturbereiche zu. Sie hat ihre Berechtigung vor allem mit Blick auf die Major-Label, und das ist auch praktisch der einzige Blickwinkel, den Lebrecht einnimmt. Die Independent-Label kommen nur am Rande vor, dann meist als Opfer der Großen. Ausnahme ist Naxos, für Lebrecht der einzig wahre Überlebende des Desasters. Aber was z.B. ist mit einem künstlerisch wie kommerziell relevanten Label wie Harmonia Mundi France? Da sind nicht nur Orgelsonaten unbekannter Barockkleinmeister aufgelegt worden (61). Ist der raketengleiche Erfolg des französischen Labels Alpha trotz luxuriös-konservativer Aufmachung, unbekannter Künstler und entlegenen Repertoires lediglich ein Grablicht am Sarg der Majors? Wieso gibt es immer noch erfolgreiche Labelgründungen, wenn fast nichts mehr gekauft wird? Wer zählt die vielen Neuveröffentlichungen mit unbekanntem, auch zeitgenössischem Repertoire? Die Evolution hat nicht umsonst auf Vielfalt der Lebensformen und realistische Nutzung der knappen Ressourcen gesetzt – es erhöht im Fall einer Krise die Überlebenschancen.
Der Autor, Jg. 1948, klagt über den Untergang einer Ära, die er als Musikkritiker und Liebhaber intensiv begleitet hat. Sein Buch ist eine erregte persönliche Abrechnung mit geringem Erkenntniswert geworden. Es verrät viel über Lebrechts persönliche Enttäuschung und – zwischen den Zeilen – von der gewiss nicht bequemen Einsicht, auch Teil einer schließlich überdrehten PR-Maschinerie gewesen zu sein. Dass es sich bei dem geschilderten Untergang vielleicht um eine notwendige Veränderung handelt, aus der durchaus Neues, künstlerisch Relevantes und wirtschaftlich Solides hervorgeht – und nicht nur der aktuelle Major-Talmi – scheint Lebrecht nicht zu sehen. Klassik ist ein Nischenprodukt. Das war sie auch früher, sieht man sich einmal Verkaufszahlen der meisten Platten zu Hochzeiten der Branche an, als die Majors einen Medientaumel entfachten, der häufig in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Absätzen der mit viel Geld beworbenen Aufnahmen stand.
Georg Henkel
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