Formosanische Luftballons zum Valentinstag: Voco Novo beim A-Cappella-Festival Leipzig




Info
Künstler: Voco Novo

Zeit: 03.05.2023

Ort: Leipzig, Kupfersaal

Fotograf: Sören Wurch (Dreieck Marketing)

Internet:
http://www.a-cappella-festival.de
http://www.voconovo.tw

Aus reichlich dreieinhalb Dutzend Ländern stammten die Formationen, die bisher bereits beim A-Cappella-Festival in Leipzig aufgetreten sind. Im 2023er Festivaljahrgang kommen zwei weitere hinzu, wobei der Länder-Status bei Albanien, woher der Albanian Iso-Polyphonic Choir stammt, bis auf ein paar Stimmen aus dem ganz verstrahlten Lager unbestritten ist.

Bei Taiwan sieht die Sache strukturell schon etwas schwieriger aus, da die Chinesen die Frage der Existenz Taiwans als unabhängiger Staat bekanntermaßen etwas anders sehen als die Bewohner der Insel Formosa selbst und somit in der Gegend immer mal der zumindest verbale Säbel rasselt, justament auch wieder während der Festivalzeit. Politische Bestrebungen spielen jedoch beim Konzert im Kupfersaal keine Rolle – es geht darum, dem Publikum wieder einen neuen Kulturkreis bekanntzumachen, der zwar mit Festlandschina durchaus Überschneidungen aufweist, aber auch einige faszinierende Eigenheiten besitzt, zumal auf Taiwan und den umliegenden Inseln noch eine erkleckliche Anzahl von „Eingeborenenstämmen“ mit einer jeweils eigenständigen Kultur existiert, auch was die Musikkultur angeht.

Dazu treten die erwähnten festlandschinesischen Elemente und zahlreiche westliche Einflüsse, was dann beispielsweise auch zur Gründung von Seraphim geführt hatte, einer der besten Metalbands, die je auf diesem Planeten existiert haben (und deren leider viel zu früh verstorbene Ur-Sängerin Pei-Ying „Pay“ Lee vor zwei Dekaden sogar in Leipzig an der Musikhochschule Gesang studiert hat).

Im Falle von Voco Novo hat sich der westliche Einfluß sogar personell manifestiert: Mit Samuel Garcia findet sich unter den sechs Sängern nämlich auch ein waschechter Amerikaner.
Altistin und Ensemblechefin Christine Liu


Wie dieser im ersten Moment dreingeblickt haben mag, macht ein Blick auf die Setlist in Mandarin deutlich (siehe Foto); der gemeine Nicht-Chinese schaut da erstmal überwiegend wie die sprichwörtliche Sau ins Uhrwerk. Die Klänge, die das Sextett dann aber fabriziert, bieten zumindest hier und da problemlose Andockmomente. Das betrifft zunächst den grundsätzlichen Stil, der sich im Vocaljazz ansiedeln läßt und gern mit The Real Group verglichen wird. Aber auch das Repertoire stellt einen interessanten Mix dar. Der Opener „Everybody Needs A Best Friend“ stammt nämlich von Norah Jones und erfüllt seinen Zweck, den Hörer erstmal mit etwas nicht gar zu Exotischem in die Thematik einzuführen, prächtig. Der Vocaljazz des Sextetts kommt mit einer fast klassisch zu nennenden Rhythmusgruppe daher: Bassist Ling-Hsiang Cheng singt überwiegend Linien im Stile einer traditionellen Baßgitarre, und dann wäre da noch Jing-Teng Lin, der beste unter all den Vocal-Percussionisten, die der Rezensent in den letzten Jahren und Jahrzehnten gehört hat. Der Mann singt im besagten Opener die Drums fast swingend, baut reihenweise Fills und Breaks ein, und schlösse man die Augen, man könnte tatsächlich der Illusion erliegen, hier säße wirklich jemand an einem Drumkit. Sollte bei irgendeiner Band je der Drummer ausfallen – hier gäbe es passenden „Ersatz“.

Aber auch Bariton Garcia, sein Tenor-Kompagnon Hsin-Wei Huang, Sopranistin Yu-Ying Lee und Altistin/Chefdenkerin Christine Liu besitzen natürlich stimmliches Gardemaß und präsentieren sich auch prächtig aufeinander eingespielt bzw. eingesungen – und das, obwohl der Tenor nur als Ersatzmann dabei ist. Nach dem erwähnten Opener geht es mit „I Want Your Love“ in die Vollen, was die Interkulturalität betrifft: Das Gros des Textes ist in Mandarin gehalten, und das Publikum wird auch gleich zu einem Mitsingspiel in ebenjener Sprache aufgefordert und zieht sich achtbar aus der Affäre, wenngleich man nicht wirklich wissen will, was man da wirklich gesungen hat, da in besagter Sprache bekanntlich ein und dasselbe silbengleiche Wort je nach Betonung völlig unterschiedliche Bedeutungen haben kann.
Der „Drummer“ Jing-Teng Lin

Der „Drummer“ fällt hier mit einem expressiven Finale besonders auf. „Across The Milky Way“, ein jahrtausendealtes chinesisches Gedicht zum dortigen Pendant des Valentinstages, erinnert in der schon lange im Repertoire von Voco Novo befindlichen Eigenfassung ein wenig an K-Pop, während „Once Upon A Time“, der Titeltrack der aktuellen CD, und „Lantern Night“ eher balladeskes Territorium beackern. Mit „Pisilian In ArtBox“ setzt das Sextett gar eine Improvisation um, in der der Tenor eine Erhu imitiert. Nach all diesem Einfallsreichtum fällt Jackos „Earth Song“ als Finale des ersten Sets fast ein wenig ab, auch wenn der Tenor hier sehr expressiv agiert. Aber nachdem die Technik kurz vor Ende der Impro mal kurz rumpelig geworden war, groovt es auch hier nicht ganz so wie vermutet/erhofft.
Nach der Pause funktioniert alles wieder prächtig, und Jing-Teng Lin kann in einer Solonummer sein ganzes Können und die Möglichkeiten einer modernen Loopstation zeigen, ehe die anderen fünf Bandmitglieder schrittweise wieder dazukommen und sich erneut Großes entwickelt. Diverse einheimische Nummern werden als Medleys zusammengefaßt, in „The Happy Song“ darf das Publikum nun sogar dreistimmig mitsingen, und dann kündigt Christine Liu an, dass nach all den fremdsprachigen Songs das Auditorium nun ein Lied in Deutsch hören würde. „99 Luftballons“ wäre nun freilich so ziemlich das Letzte, mit dem der Nichtkenner der Formation jetzt gerechnet hätte (und das Festival-Programmbuch bietet in diesem Falle keine Spoilermöglichkeit – bei einigen der Konzerte sind die jeweiligen Programme abgedruckt, aber eben nicht bei allen), aber genau diesen alten Nena-Hit graben Voco Novo aus, mit strophenweisem Solowechsel vom Tenor über den Bariton und die Sopranistin bis zum Bassisten, wobei die Qualität in dieser Reihenfolge auch immer besser wird und der Bassist sozusagen den Sieg im internen Ranking davonträgt, aber beispielsweise auch die Sopranistin höchsten Respekt verdient, was ihre Lösung der Aufgabe betrifft, Worte wie „Benzinkanister“ zu singen, die mit ihrer Mandarin-Muttersprache so gar nichts gemeinsam haben. Weil das so gut geklappt hat, kommt als Setfinale gleich noch die „Ode an die Freude“, ebenfalls in verschiedenen Stilen und Sprachen, letztere von Deutsch über Mandarin schließlich im Englischen landend. Das Publikum, das schon während des Konzertes hochgradig hochgestimmt war, gibt sich natürlich nicht zufrieden und bekommt noch ein Gutenachtlied vorgesetzt, das in Taiwan traditionell immer kurz vor Ladenschluß gesungen wird. Die Voco-Novo-Fassung kommt unverstärkt daher, bis auf den Perkussionisten, der aber auch im Pianissimo agiert. Die Botschaft „Bis morgen, gute Nacht“ wird so mancher Anwesende in „Bis in drei Tagen, gute Nacht“ umzudeuten versucht haben, denn beim Festival-Abschlußkonzert drei Tage später im Großen Saal des Gewandhauses ist das Sextett auch noch einmal mit von der Partie. XièXie!


Set List


Setlist Voco Novo:
Everybody Needs A Best Friend
I Want Your Love
Across The Milky Way
Lantern Night
GozaGoza
Pisilian In ArtBox
Earth Song
--
Loop Show
Chinese Folk Song Medley
Orchid Island Medley
Blossom
Freedom
Happy Song
99 Luftballons
Ode To Joy
--
Good Night Song


Roland Ludwig



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