Sober Truth
Locust v Lunatic Asylum
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So können Mißverständnisse eine gute Rezensionseinleitung abgeben: Irgendwie war im Zuge des Gigs von Sober Truth am 30.9.2016 im Bandhaus Leipzig eine Stilbezeichnung namens „Pro Groove Metal“ zum Rezensenten gelangt und warf prompt die Frage auf, was denn dann „Contra Groove Metal“ sei (wer lesen will, wie die Analyse dann weiterging, schaue auf www.crossover-agm.de nach). Nun liegt Locust v Lunatic Asylum vor, das dritte vollständige Album der Band (hinzu kommen eine EP und eine Spezialedition des zweiten Albums), und es liefert die ausführliche Stilbezeichnung „Progressive Groove Metal“ mit, was die Vermutung aufkommen läßt, daß da irgendwann mal jemand ProGroove Metal geschrieben haben dürfte, aber dann jemand anders die Doppelfunktion des G nicht erkannt hat ...
Nächste Frage ist, ob der stilistische Liveeindruck der Musik anhand der Konserve verifiziert werden kann - die Antwort lautet klar und deutlich „Jein“. Die Anklänge an Metallicas ...And Justice For All sind auf der Konserve deutlich geringer ausgeprägt, dafür diejenigen in Richtung einer bestimmten Stilrichtung des modernen Melodic Death Metals stärker, nämlich diejenige, für die Soilwork in den frühen Jahren des neuen Jahrtausends standen. Gerade den Quasi-Titeltrack „Leave The Locust In The Lunatic Asylum“ hätte man sich auch von Strid & Co. vorstellen können, was freilich nicht bedeuten soll, daß die 2007 gegründeten Sober Truth billige Abkupferer wären, denn diese Stilistik ist nur eines der vielfältigen von ihnen verarbeiteten Elemente. „Powergenerator“ etwa setzt als einer von wenigen der 11 Songs (plus Intro) markante Keyboards ein, fällt auch mit seinen Blastbeateinschüben etwas aus dem Rahmen und könnte fast auf einer Leprous-Platte landen, wo es allerdings die obere Härtegrenze markieren würde.
Die Harmoniefolge des Intros der Platte wiederum kommt dem Rezensenten aus dem Achtziger-Pop diffus bekannt vor, ohne daß er zum aktuellen Zeitpunkt eine konkrete Herkunft angeben könnte, das Intro von „Layer Of Self“ stellt puren Gothic Rock dar, und die „Welcome To Majula“ einleitenden Gitarrenleads sind so typisch Mittneunziger-Göteborgdeath, wie nur irgendwas typisch Mittneunziger-Göteborgdeath sein kann. Typisch indes für Sober Truth: Sie machen hier nicht etwa typischen Mittneunziger-Göteborgdeath draus, sondern lenken den Song erstmal in eine andere Richtung, bevor sie das Gitarrenleadthema im Hauptteil noch an markanter Stelle erneut zum Einsatz bringen. Solche Kombinationskunst unterscheidet das Quartett von vielen Mitbewerbern im aktuellen Komplexmetal, die Dutzende für sich betrachtet gar nicht so schlechter Ideen aneinander reihen, aber an deren sinnvoller und effektiver Verarbeitung scheitern. „Collapse“ ist auch in der Konservenfassung derjenige Song, mit dem Sober Truth sich dem traditionellen Metal am weitesten nähern – modernen Power Metal könnte man das nennen, und die einzigen Gründe, wieso wir hier nicht beispielsweise eine leicht modernere Version von Morgana Lefay vor uns haben könnten, sind das blastende Finale sowie der Gesang von Torsten Schramm, der zwar auch über die Klangfarbe eines appellierenden Klargesangs verfügt, sich aber bevorzugt in aggressiveren Gefilden aufhält und dort von Hetfield-ähnlichem Shouting über verschiedenste Schattierungen des Gebrülls, hardcoreartiges Gebell und Death-Metal-Grunzen bis hin zu blackmetalkompatiblem Gekreisch die komplette Bandbreite nicht nur beherrscht, sondern auch zum Einsatz bringt, so daß ein äußerst vielfältiger Eindruck entsteht, der allerdings nicht beliebig oder gar wirr wirkt.
Freilich, den einen oder anderen Durchlauf brauchen die Nummern schon, um sich in den Gehörgang vorzuarbeiten, und bei manchen gelingt das schneller als bei anderen. Aber die Fähigkeit Sober Truths, relativ kompakte Nummern zu arrangieren, hilft bei der Erschließung des Albums ebenso wie Marvin Creeks Fähigkeiten an der Leadgitarre, die speziell das melodische Moment einprägsam zu unterstützen oder grundsätzlich erst zu evozieren wissen. Ein, zwei Nummern gibt es freilich, wo Sober Truth zuviel wollen, was die Integration an und für sich guter, aber stilistisch gegensätzlicher Ideen in ein und denselben Song angeht – in „Procrastination“ etwa können weder das schöne Gitarrenhauptthema noch der starke Refrain oder das mystische Einleitungsthema ihre Wirkung richtig entfalten, weil etwa die fast nach „Jump, Jump“ klingenden hüpfmetalkompatiblen Passagen und etliche andere Parts keine Verstärkungs- oder Hervorhebungs-, sondern eine Behinderungswirkung entfalten.
Inwieweit das Vorgängermaterial anders geklungen hat, müssen Kenner der Bandgeschichte entscheiden, zu denen der Rezensent nicht gehört – für ihn stellten der Gig letztes Jahr und eben jetzt der neue Tonträger die ersten akustischen Begegnungen mit der Siegerländer Band dar, und es sind überwiegend erfreuliche Begegnungen. Das im Digipack ohne Booklet, aber mit Kernsätzen aus den jeweiligen Lyrics erscheinende Locust v Lunatic Asylum, dessen Titel sich mit einem hier nur symbolisierten Dreieck schreibt, sollte Anhängern modernen Metals, die keinen Wert auf technologischen Fortschritt oder absolute Neulanderschließung legen (beides findet hier nämlich nicht statt, auch wenn man wie beschrieben keine Band benennen kann, die wirklich exakt wie Sober Truth klingt), einen Hörtest oder die Band als solche einen Livebegutachtungstest wert sein. Dabei stellt man dann auch fest, daß sich hinter Bassist Jules ein hübsches weibliches Wesen verbirgt ...
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Introduction | 0:54 |
2 |
Leave The Locust In The Lunatic Asylum | 4:48 |
3 |
Paragon | 4:38 |
4 |
Murphy’s Law | 4:13 |
5 |
Powergenerator | 4:54 |
6 |
Welcome To Majula | 3:33 |
7 |
Collapse | 4:02 |
8 |
My Enemy | 3:48 |
9 |
Layer Of Self | 3:33 |
10 |
Procrastination | 4:50 |
11 |
Cold Chapter | 3:48 |
12 |
Sober | 3:36 |
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Besetzung |
Torsten Schramm (Voc, R-Git)
Marvin Creek (L-Git)
Jules Rockwell (B)
Sam Baw (Dr)
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