Kurtág, G. (De Leeuw, R.)

Sämtliche Werke für Ensemble und Chor


Info
Musikrichtung: Neue Musik Ensemble

VÖ: 23.06.2017

(ECM / Universal Classics / 3 CD / AD 2013-2016 / DDD / Best. Nr. ECM New Series 2505-07)

Gesamtspielzeit: 150:40



KURTÁGS KOSMOS

Meister der Verdichtung

Der ungarische Kompnist György Kurtág (geb. 1926) ist ein Meister der Verdichtung. Nur wenige Noten genügen ihm, um eine ganze Welt aufscheinen zu lassen, unerhörte Klang- und Ausdruckkräfte zu entfesseln. Viele seiner Kompositionen währen kaum ein bis zwei Minuten, manche sogar nur wenige Sekunden. Sie fügen sich allerdings oft zu größeren Zyklen, so dass sich Werkkomplexe von längerer Dauer ergeben können. Die Knappheit ist das Ergebnis eines ungleich umfangreicheren, skrupulösen Arbeitsprozesses, eines Ringens um den wahren Klang: Kurtág arbeitet sehr langsam; manche Kompositionen sind über viele Jahre herangereift, bis der Komponist sie endlich - und manchmal nur vorübergehend, bis zu nächsten Revision - freigegeben hat. Nur rund 50 Opusnummern umfasst sein Gesamtwerk bislang.

Angesichts von Kurtágs Arbeitsehtos ist es nur konsequent, dass auch diese wahrhaft imponierende Aufnahme sämtlicher Vokal- und Ensemble-Werke Kurtágs, die beim Label ECM erschienen ist, über einen Zeitraum von vier Jahren entstanden ist. Für insgesamt elf Kompositionen und rund 150 Minuten Spielzeit ist das wahrlich luxuriös, entspricht aber ganz der Philosophie des Labels und seines Gründers Manfred Eicher. Schon seit Mitte der 1990er Jahre hat sich ECM als eine der ersten Adresse für die Veröffentlichung von Kurtágs Oeuvre auf CD hervorgetan, wobei der Komponist in der Regel bei den Aufnahmen zugegen war. So auch hier.

Wort-Klang-Beschwörungen

Für eine authentische Interpretation sei dies unverzichtbar, erklärt auch der Dirigent Reinbert de Leeuw, der zusammen mit dem Ensemble Asko|Schönberg seit 20 Jahren Kurtágs Werke einstudiert und aufgeführt hat. Vieles, aber eben nicht alles stehe in den Noten, könne nur mit dem Komponisten erarbeitet werden. Z. B. das Wechselspiel von Klang und Stille in der enigmatischen Beckett-Vertonung What is the Word: Dem Stück liegt das letzte Werk des Dichters zugrunde, das dieser nach einem Sturz und vorrübergehendem Sprachverlust im Krankenhaus geschrieben hat: Ein Notat aus Wortfragmenten, ein Stammeln und nervöses Suchen nach Begriffen, zugleich ein eindrückliches Zeugnis für Becketts Kunst, auch das "Ende der Sprache" in Sprachkunst zu verwandeln. Kurtág hat sich für eine ungarische Übersetzung entschieden, nur an einzelnen Stellen wählt er das englische Original. Dadurch erscheint die Vorlage noch kryptischer, für Nicht-Ungarn könnte es sich um eine erfundene Sprache handeln.
Kurtágs kongeniale Vertonung ist ein riesiger, geradezu surrealer Echoraum für Solostimme und im Raum verteilte vokale und instrumentale Klanggruppen, in denen die Sprachzertrümmerung Becketts nachhallt. Dies im wahrsten Sinne: Das Stück beginnt mit einem ungeheuren Schlag des gesamten Ensembles, der angetan ist, alle Worte und Klänge zu zerbrechen und auszulöschen. Aus den verbliebenen Trümmern bildet sich dann das Stück. Die Worte leuchten darin gleichsam noch einmal auf, berührend und verstörend in ihrer Fragilität, ihrer fremdartigen Schönheit. Sie projizieren flüchtige Bilder und Fragmente von Geschichten, evozieren Emotionen und Erinnerungen, bevor sie in die Stille hinein sich auflösen und vergehen. Oft erinnert das Ganze an ein Ritual, an schamanische Beschwörungen oder die Gebete einer unbekannten Religion. Wie so oft bei Kurtág ist die Tragik des Ganzen untrennbar verbunden musikalischer Wahrheit und Schönheit und einer mitunter magischen Macht des Klanglichen, die weiter und tiefer reicht als aller subjektiver und expressiver Ausdruck.

Passionsmusiken

Das auf dieser Aufnahme vielleicht ergreifendste Beispiel für diese Kunst der Klangbeschwörung ist Grabmal für Stephan für Gitarre und im Raum verteilte Instrumentalgruppen, das mit den zarten Klängen von den leeren Saiten der Solo-Gitarre beginnt und auch endet. Wie in einer Litanei durchzieht die gebrochene Tonfolge das Stück - ein Trauerritual, eine Totenklage, die persönlich und zugleich streng und entrückt wirkt. Eruptive klangliche Entladungen sind bei Kurtág übrigens nicht ausgeschlossen. Etwa in der Mitte des Grabmals fährt ein martialischer instrumentaler Aufschrei durch die ansonsten ruhig dahinschreitende Musik.

Zwar ist die Perspektive von Kurtágs Musik zunächst eine "irdische". Er komponiert im weitesten Sinne eine Passions-Musik des Menschen, eine Musik der "Leiden-Schaften" - darin ist er ein "typischer" Komponist des 20. und 21. Jahrhunderts. Und doch gibt es immer die Ahnung von etwas "darüber hinaus", z. B. Momente ätherischer Entrücktheit oder ein lichtes Schweben ohne dass diese Ahnung zu einem expliziten Bekenntnis würde (so in einigen von den Chorstücken Despair and Sorrow). Dieses Andere tönt gleichsam durch die filigranen, zarten Klänge hindurch. Vom Verstand her könne er nicht glauben, so der Komponist. In seiner Musik, so möchte man ergänzen, kann er es schon. Erlösung kann geschehen - jetzt.

Moderne Lamenti und Mönchsgesänge

Und selbst da, wo er in den Botschaften des verstorbenen Fräulein R. Troussova auf Dichtungen von Rimma Dalos die Biographie einer Gescheiterten, einer verzweifelt liebenden Frau in 20 kurzen Szenen bis zum endgültigen Verlöschen nachzeichnet, ist man als Hörer doch getroffen von der Intensität und Lebendigkeit, mit der diese Zeugnisse formuliert und - in diesem Fall von Natalia Zagorinskaya - interpretiert werden. Auf kleinstem Raum reißt Kurtag ganze Abgründe menschlichen Begehrens, Sehnens und schmerzvoll-zärtlichen Fühlens auf. Das ist Monteverdis Lamento der Arianna für das 20. Jahrhundert, ebenso kühn, ebenso archetypisch und ebenso intim.
Geradezu erschütternd äußert Kurtags Meisterschaft sich in Miniaturen wie der Lyrik-Vertonung Alkohol aus den Vier Liedern über Gedichte von János Pilinszky, wo über einem brüchigen Orgelton des Cellos der Bass-Sänger (herausragend in der der vokalen Mimikry: Harry van der Kamp) einen obertönigen Lall-Gesang anstimmt. Das Alkohol-Delirium erscheint wie der Gesang eines tibetischen Mönchs, von abgründiger Heiligkeit und erhabener Schönheit zugleich. Botschaften aus einer himmlischen Hölle?
Gleich im Anschluss wird mit ebenso sparsamen Mitteln eine Scheinhinrichtung aus einem russischen Straflager nachgestellt, wobei der Sänger den stumpfen Schergen und - aus der nüchternen Beobachterperspektive - die Ausführung der Befehle durch den Deliquenten im Wechsel darstellt. Man versteht, warum Kurtág immer als ein genuiner Opernkomponist angesehen wurde, ohne bislang eine Oper geschrieben zu haben. Warum nicht? "Ich fürchtete mich", so der Komponist. 2018 aber soll nun seine seit vielen Jahren erwartete Beckett-Oper "Fin de partie" ihre Premiere an der Mailänder Scala haben.
Ein weiterer Höhepunkt dieser Werkschau sind die beiden Werke op. 27, das "Klavierkonzert" ... quasi una fantasia" und das Doppelkonzert für Cello und Klavier, jeweils wieder mit im Raum verteilten Klanggruppen. Insbesondere die langsamen Adagio-Sätze sind von großer Schönheit des Ausdrucks und klanglicher Feinheit. Frappierend auch, wie Kurtág hier mit teilweise vertrauten Ausdrucksmitteln eine packende, unverbrauchte Musik komponiert. Diese Musik sucht immer die Resonanz in der Klang-Seele des Hörers. Sie beschränkt sich nicht auf theoretische Konzepte oder die Demonstration von "Materialbeherrschung". Das macht sie so menschlich und unmittelbar berührend.

Schöpferische Freiheit

Bei all dem ist die Freiheit und Individualität von Kurtágs Musik unüberhörbar. Nie ist er einem bestimmten Verfahren, einer speziellen Technik gefolgt. Nie gehörte er einer bestimmte Schule an. Weder unterwarf er sich serieller Dogmatik noch folgte er den oberflächlich oft attraktiven postmodernen Neo-Mischungen. Und doch ist Kurtág einer der letzten großen Vertreter der Generation nach 1945, ein Zeitgenosse von Messiaen, Stockhausen, Boulez, Ligeti, Lachenmann, Nono, Xenakis, Cage und Feldman, die ihn immer wieder inspiriert haben und auch in den hier aufgenommenen Stücken ihre Spuren hinterlassen haben. Auf gewisse Weise aber erweist Kurtágs Werk sich aber als ein Brennpunkt der gesamten abendländischen und auch der globalen Musikgeschichte.
Zahllos sind die mehr oder weniger offenkundigen Bezüge, die seit seinem ersten Streichquartett Op. 1 von 1959 in seiner Musik zu entdecken sind und die vom Mittelalter bis zur Moderne reichen; davon sprechen auch die zahlreichen Widmungen des Komponisten an Kollegen. Einem Erweckungsereignis gleich kam für Kurtag die Begegnung mit Karlheinz Stockhausens epochaler Komposition GRUPPEN für drei Orchester und der kurzen elektronischen Komposition Artikulation seines Landmanns und Freundes György Ligeti. Gefiltert und verdichtet wurden diese und andere Eindrück durch die hochkonzentrierte Musik Anton Weberns, dessen schnörkellose Kürze auch für Kurtág zum Maßstab wurde.
Doch selbst da, wo er ein Zitat verwendet (das kann auch wie in der Collinda-Ballade Volksmusik sein), klingt die Musik immer nach Kurtág und wirkt nie eklektisch oder epigonal. Wie viele seiner bedeutendsten Kollegen (nicht nur jene des 20. Jahrhunderts) ist seine musikalischer Horizont universal und seine Sprache unverwechselbar, auch und gerade in der Vielfältigkeit der Mittel.

Interpretatorische und editorische Glanzleistung

Mit dieser Box setzt ECM in der Kurtág-Interpretation erneut Maßstäbe: Als Einführung in Kurtágs Kosmos ist sie editorisch überaus gelungen, spannt einen weiten Bogen von den Anfängen bis zur Gegenwart und bezeugt die Integrität und Qualität von Kurtags Oeuvre.
Interpretatorisch ist sie von höchstem Niveau, authentisch im besten Sinne durch die Mitwirkung des Komponisten und die Bereitschaft der Interpreten, sich immer wieder neu auf die Musik einzulassen.
Auch aufnahmetechnisch haben die niederländischen Tontechniker ganze Arbeit geleistet: Sehr weit ist das dynamische Spektrum und das räumlich aufgefächerte Klangbild (viele von Kurtágs Kompositionen sind Raummusiken, die Nah- und Fernklänge kombinieren). Um die Pianissimo-Bereich angemessen darzustellen, empfiehlt sich bei der Wiedergabe eine gute Lautstärke und entsprechende Technik. Wie eigentlich immer bei ECM ist der Klang resonanzreich, dabei aber auch von der erforderlichen Transparenz, so dass die Details hörbar bleiben.
Zwei Booklettexte von Wolfgang Wander und Paul Griffith, ein Interview mit dem Dirigenten und kurze Dankesworte des Komponisten runden zusammen mit zahlreichen Fotos sowie dem ungarischen bzw. russischen Libretto und den (leider nur) englischsprachigen Übersetzungen der vertonten Texte diese herausragende Produktion ab.



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 51:21
4 Capriccios op. 9
4 Lieder op. 11 auf Texte von Janos Pilinszky
Grabstein für Stephan op. 15c
Messages of the late Miss R. V.Troussova op. 17

CD 2 43:23
...quasi una fantasia op. 27 Nr. 1
Doppelkonzert op. 27 Nr. 2
Samuel Beckett: What is the Word op. 30b

CD 3 55:56
Songs of Despair and Sorrow op. 18
Lieder op. 41 auf Gedichte von Anna Akhmatova
Colinda-Balada op. 46
Brefs Messages op. 47
Besetzung

Natalia Zagrosinskaya, Sopran
Gerrie de Vries, Mezzosopran
Yves Saelens, Tenor
Harry van der Kamp, Bass

Jean-Guihen Queyras, Cello
Elliott Simpson, Gitarre
Tamara Stefanovich: Klavier
Csaba Király: Pianino, gesprochene Worte

Ensemble Asko|Schönberg
Netherlands Radio Choir

Reinbert de Leeuw: Leitung


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