Unvollendetes Licht: Erstes Deutschland-Konzert des Lebanon Valley College Symphony Orchestra in Leipzig
Eine Art Parallelprojekt zu Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra? Man könnte es anhand des Namens fast vermuten, läge damit aber falsch: Das Lebanon Valley befindet sich an der US-amerikanischen Ostküste, im Staat Pennsylvania, und da am Lebanon Valley College u.a. auch Musiker, vor allem Musiklehrer ausgebildet werden, lag es nahe, ein collegeinternes Orchester zu gründen. Dieses existiert mittlerweile fast hundert Jahre, spielt alljährlich zwei Konzertprogramme und ist im 21. Jahrhundert auch schon mehrfach zu Konzerten in Europa unterwegs gewesen, in Österreich, Italien, Tschechien und Irland. Deutschland aber steht anno 2023 zum ersten Mal auf dem Tourplan, das Leipzig-Konzert an diesem Dienstagabend bildet also eine Premiere für die jungen Musiker, freilich nicht für ihren Dirigenten Johannes Dietrich. Der ist zwar in Montana geboren, aber ihm mitteleuropäische Vorfahren zu attestieren erfordert nicht viel Phantasie – und er hat tatsächlich in Salzburg studiert und war auch schon als Violinsolist in deutschen Landen aktiv. Seit 1995 leitet er das Lebanon Valley College Symphony Orchestra, also seit einem Zeitpunkt, da nahezu alle aktuell zur Besetzung gehörenden Musiker noch gar nicht geboren waren. Das Leipzig-Konzert findet in der Peterskirche statt, einer riesigen neugotischen Hallenkirche mit schwierigen akustischen Verhältnissen und reichlich Hallhallhall, was sich in manchen Stücken als Problem erweist, anderen aber durchaus zugutekommt, wobei der Rezensent nur von seinem Platz links im vorderen Drittel aus urteilen kann – die Verhältnisse an anderen Stellen des Kirchenraums können durchaus abweichend ausgefallen gewesen sein. Das Programm hebt mit George Gershwins „An American In Paris“ an, und das ist eines der Stücke mit interessanten Klangeffekten durch die besagten Verhältnisse: Man hat den Eindruck, als beobachte der Amerikaner das Geschehen aus einiger Entfernung, vielleicht sogar aus einer Parallelstraße heraus. Der Lockerheit und Munterkeit des Spiels tut das gewisse Ineinanderfließen keinen Abbruch, zumal speziell das Xylophon hervorstechen und Tempo machen darf. Auch den Traumsequenzen hilft der Sound durchaus, obwohl hier einiges noch etwas ungewollt schräg klingt. Auf das Live-Arsenal von Autohupen verzichtet das Orchester allerdings – oder sie sind so tiefliegend ins akustische Geschehen eingebunden gewesen, dass der Rezensent sie überhört hat. Franz Schuberts Sinfonie Nr. 8 D. 759, die Unvollendete, in dieser Akustik zu spielen stellt ein ziemliches Wagnis dar, wie im Allegro moderato nach der sehr klangschönen Einleitung schnell deutlich wird: Klangschärfe ist in den dramatischen Fortgängen praktisch nicht umsetzbar, obwohl Dietrich ein eher bedächtiges Entwicklungstempo wählt. Schöne Musik ist und bleibt das natürlich trotzdem, zumal hier erstmals der Stimmführer der Celli akustisch weit nach vorne tritt, und der ist offenbar äußerst fähig. Gewisse Dramatik läßt sich aber trotzdem realisieren, wie der eindrucksvolle Satzschluß beweist. Das Andante con moto nimmt Dietrich zwar bedächtig, aber trotzdem mit unwiderstehlichem Flow. Vor allem im Mittelteil liegt der eine oder andere Bläser mal daneben, aber die enorm raumgreifenden Hörner, die trotzdem gut ins Gesamtbild eingepaßt sind, wissen hier besonders zu beeindrucken. Nach hinten heraus beruhigt sich das Geschehen, wenngleich ohne puren Eskapismus. Dietrich verläßt dann sein Dirigentenpult und macht Platz für Alydia Marangoni, die das Allegro aus Antonio Vivaldis L’Estro Armonico Concerto 1 op. 3 leitet. Auch das Flötenquartett, das hier im Einsatz ist, rekrutiert sich aus den Orchestermusikern (Marangoni selbst spielt dieses Instrument planmäßig gleichfalls). Die junge Dirigentin hält das Tempo übersichtlich, und Ande Balla, Gillain Cheezum, Jamie LaPine und Emily Saporita agieren munter und quicklebendig, aber selbstredend läuft auch hier klanglich einiges ineinander. Trotzdem ergeben sich abermals einige hübsche Klangwirkungen, zumal der Cello-Stimmführer den Laden konsequent von unten her zusammenhält. Jacob McGovern, den man optisch auch in einer Folk-Metal-Band verorten könnte, wechselt danach aus der Holzbläserabteilung ans Dirigentenpult und leitet das Allegro maestoso aus Wolfgang Amadeus Mozarts Hornkonzert Nr. 2 KV 417. Er wählt ein ziemlich flottes Grundtempo, schafft es aber trotzdem, reichlich Eleganz ins Hauptthema legen zu lassen. Solistin Adelyn Ruth steht aus Publikumssicht links, und der Trichter zeigt damit in Richtung linke Außenwand – aber der gedeckte Klangeindruck ist für das Gesamtbild hier sogar Gold wert, zumal das Können der Solistin trotzdem problemlos klar wird: Sie ist für ihr jugendliches Alter schon enorm weit, was aber auch für McGovern zutrifft, der das Orchester gekonnt durch das eher kleinteilig strukturierte Tempomanagement hangelt. Die Solistin erntet einen Bravoruf und grinst zufrieden. Auch talentierte Sänger befinden sich unter den jungen Musikern: Hailey Trump und Elizabeth Readdy, sonst am Schlagwerk respektive am Klavier aktiv, singen das Duett „Sous le dôme épais“ von Léo Delibes, also das berühmte Blumenduett aus der Oper „Lakmé“, das viele wohl eher nicht aus dieser Oper, sondern aufgrund der vielfältigen Verwendung als Filmmusik oder eben auch als gesangssolistisches Bravourstück kennen. Unter den Verhältnissen dieses Abends werden die Sopranistin Trump und die Mezzosopranistin Readdy sozusagen zu Angelic Voices, treten aber hier und da auch geerdet hervor. Vom Text versteht man naturgemäß kein Wort, aber es entsteht eine schön entrückte Stimmung, zumal beide stimmlich gut harmonieren und das Orchester, nun wieder mit Dietrich am Pult, einen prima schwingenden Grundrhythmus ausstreut und letztlich ein bezauberndes Finale hintupft. Dietrich wendet sich dann zum ersten Mal ans Auditorium und punktet mit ehrlichen und freundlichen zweisprachigen Ansagen. „Only Light“ des 1979 geborenen Aaron Perrine kündigt er als „wunderbares Stück“ und zudem als europäische Erstaufführung an. Was dann zu hören ist, atmet pure Cineastik und bleibt konsequent tonal. Oft erfolgen die Entwicklungen eher bedächtig, nur selten unterbrochen durch dramatische Einschübe, wenn das titelgebende Licht offenbar durchbricht. Der Cello-Stimmführer ist auch hier wieder Gold wert, das ruhige Klavierbreak überrascht und überzeugt gleichermaßen, und dann driftet das Stück mit einem schrägen Xylophon zum Finale. Hübsch ist’s auf alle Fälle – eine genauere Analyse lohnt aber erst nach einem Wiederhören unter klaren akustischen Verhältnissen. Das Programm hatte mit einem US-Klassiker begonnen, und es endet auch mit einem solchen, nämlich einer Suite aus Leonard Bernsteins „West Side Story“. Der Bombast ist naturgemäß akustisch schwierig zu durchdringen, aber man hört doch viel Interessantes heraus, zumal gerade das Schlagwerk (an dem Hailey Trump hin und her wetzen muß, um alle Aufgaben zu erfüllen) nutzbringend dosiert agiert. Dietrich erzeugt Flow, wenn das nötig ist, bekommt auch eine gut strukturierte Dramatikgestaltung hin, und nach „America“ als Grande Finale bricht das Publikum in der fast vollen Peterskirche in lauten Jubel aus. Dietrich ergreift noch einmal das Wort und bittet um Entschuldigung, dass man es nicht geschafft habe, eine Zugabe einzustudieren – diverse der Aushilfsmusiker seien erst an diesem Tag dazugestoßen, und die gemeinsame Vorbereitungszeit habe „nur“ für das normale Programm gereicht. Das Ergebnis nötigt angesichts dieses Umstandes noch höheren Respekt ab als ohnehin schon und läßt den einen oder anderen Wackler erklärlich erscheinen – und eine Zugabe gibt es dann doch noch, indem die letzten Bernstein-Sätze kurzerhand wiederholt werden. Well done! Roland Ludwig |
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