Viertel vor Sieben beim Pinselohrschwein: Quintense springen beim A-Cappella-Festival Leipzig für die U-Bahn Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern ein
Allseits herrscht große Freude, dass das traditionsreiche A-Cappella-Festival in Leipzig nach zwei Jahren Zwangspause angesichts der abklingenden Infektionswelle wieder live und in Farbe stattfinden kann, zumindest was den Konzert- und den wissenschaftlichen Teil angeht. Aber vor Unwägbarkeiten ist man in dieser Situation natürlich nicht gefeit. Den Chefdenkern von Amarcord war es gelungen, die U-Bahn Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern an Land zu ziehen – die hessische Kultformation hat sich bereits vor mehr als einem Jahrzehnt zur letzten Ensembleruhe begeben und taucht aus dieser nur zu ganz besonderen Gelegenheiten nochmal auf. Eine dieser Gelegenheiten hätte nun das A-Cappella-Festival in Leipzig bilden sollen, wo die Formation anno 2006 in der Moritzbastei einen umjubelten Gig abgeliefert hatte und nunmehr im Schauspielhaus für ein nachmittägliches Familienkonzert sowie ein abendliches „reguläres“ Konzert eingeplant war. Aber ach, die Seuche machte diesen Plan zunichte, die Kontrollöre mußten kurzfristig absagen, und die Organisatoren standen vor der Aufgabe, entweder die Konzerte abzublasen oder in Windeseile einen Ersatz zu beschaffen. Zum Glück kennt man sich in der A-Cappella-Welt ja, und so konnten Quintense, die bereits in der rein digitalen 2021er Festivalauflage mitgewirkt hatten, innerhalb von weniger als 24 Stunden einspringen und kamen somit unverhofft zu ihrem regulären Festivaldebüt – allerdings auch nur mit Hürden: Von den fünf Mitgliedern hatten nämlich nur vier Zeit, der fünfte, Tenor-Neuzugang Stefan, aber nicht. Auch für dieses Problem fand sich eine Lösung, nämlich die temporäre Reaktivierung seines Vorgängers Carsten, der Zeit hatte, es sich allerdings auch nicht nehmen ließ, schnell noch einige Nummern aus dem aktuellen Quintense-Programm einzustudieren, die die Formation erst nach seinem Ausstieg Ende 2021 ins Repertoire genommen bzw. weiter ausgearbeitet hatte. Diese Truppe nun übernimmt beide Konzerte, die eigentlich mit den Kontrollören geplant gewesen waren, und der Rezensent ist beim Abendkonzert anwesend. Da er Quintense noch nie live gesehen hat, gestaltet sich das also auch für ihn zu einer Premiere. Und die fällt überzeugend aus, um das schon mal vorwegzunehmen. Quintense frönen grundsätzlich einer mittlerweile schon fast „klassisch“ zu nennenden Herangehensweise ans A-Cappella-Schaffen: Sie nehmen Pop- oder auch Jazzsongs und bilden deren Strukturen mit A-Cappella-Mitteln nach. Im Gegensatz zu manchen Kollegen gehen sie bisweilen aber noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur die Drums mittels Beatboxing umsetzen (meist der Job von Jonas), sondern auch die Baßgitarre eher instrumental denken und nicht in eine „richtige“ Gesangslinie umwandeln (meist der Job von Martin). In „Favorite Things“ führt das dann sogar zu einem „gesungenen Solo“, und generell darf sich das junge Quintett eine vielschichtige und lockere Herangehensweise gutschreiben lassen, ohne dass sie freilich die nötige Ernsthaftigkeit beim Musizieren vergessen ließen. Im Opener „Royals“ arbeiten sie zunächst quasi fugiert und marschieren dementsprechend auch versetzt ein, auch sonst herrscht einiges an Bewegung auf der Bühne, ohne aber in wilden Aktionismus zu verfallen, und neben einem stimmigen Gesamtbild ist der Formation ganz offensichtlich auch die Detailarbeit wichtig, etwa das coole Echo im Finale von „Come On, Talk“ oder der Fakt, dass der Beatboxer in „Another Day In Paradise“ die markant nach hinten klanglich abgeschnittene Snare, mit der Phil Collins seinerzeit den Drum(computer)sektor revolutionierte, exakt so umsetzt. Solches Können, das alle fünf in die Waagschale werfen können, verlangen Quintense allerdings auch vom Publikum, indem sie in „Best Part“ ein alles andere als einfaches Mitsingspiel eingebaut haben, das sich turmhoch über das erhebt, was man in diesem Sektor sonst gewöhnt ist. Aber Sachsen sind bekanntlich singfreudig, A-Cappella-Festival-Publikum sowieso, und so entledigen sich die Anwesenden im anständig gefüllten Schauspielhaus der Aufgabe gekonnt. Nicht selten atmen die Arrangements einen luftig-jazzigen Gestus, etwa „Words“ oder „Easy (Like Sunday Morning)“, letzteres trotz der Tatsache, dass die Ansage behauptet hat, die Commodores-Nummer habe in der Quintense-Fassung ihren jazzigen Touch verloren. Aber so manche Ansage ist sowieso mit etwas Augenzwinkern zu betrachten, man lernt Vokabeln wie „Pinselohrschwein“ kennen (ein solches betrachtete Altistin Katrin im Zoo von Hannover gerade, als der Anruf kam, ob Quintense einspringen könnten), und bisweilen artet das Ganze auch in viel Gelaber und Witzeerzählen aus. Exempel: „Ein Vegetarier verschluckt eine Fliege. In diesem Moment ist was in ihm gestorben.“ Bevor der totale Klamauk ausbricht, schaffen Quintense aber immer wieder den Bogen zur Musik. „Blackbird“ nehmen sie etwas geerdeter, aber naturgemäß stimmlich gespreizter als die lokalen Kolleginnen Sjaella (die keine Beatboxerin haben, aber dafür einstmals in dieser Nummer das Publikum Waldgeräusche beisteuern ließen, was wiederum Quintense nicht imitieren), „Finesse“ gerät zum expressiven, aber zugleich festlichen Edelpop, und „Up & Up“ gestaltet den Refrain schrittweise immer eindringlicher, dort ohne Beatboxing, atmet aber auch sonst viel Größe, und Jonas erntet für sein Beatboxer-Solo schließlich sogar noch Szenenapplaus. Schade, dass der coole Beatboxing-„Workshop“ aus dem Familienkonzert im Abendkonzert fehlt – aber auf dem Youtube-Kanal des Festivals gibt es einen einstündigen Ausschnitt des Familienkonzertes, und dort ist er mit dabei, kann vom Interessenten also auch nachträglich noch begutachtet werden. Nachdem sich so mancher im Publikum anfangs erst ein wenig in Quintenses Schaffen einhören mußte, hat die Begeisterung während des Sets immer mehr zugenommen, und so kommt das Quintett natürlich nicht ohne Zugaben davon und packt mit „Viertel vor sieben“ (ja, Reinhard Mey!) zunächst eine eher nachdenkliche Nummer aus, die aber unmittelbar nach Verklingen trotzdem mit frenetischem Applaus beantwortet wird. Das stellt die Formation freilich vor ein Problem, wie Sopranistin Sabrina gesteht, denn man hat in der Kürze der Zeit nicht mehr als die bisherigen 15 Nummern einproben bzw. auffrischen können. Das Publikum schlägt das Prinzip „Von vorn!“ vor, und tatsächlich lassen sich Quintense überreden, den Opener „Royals“ nochmal darzubieten – und das ist gut so: Die erwähnte Eingewöhnungsphase des Publikums ist längst vorbei, und die gute, aber noch keine Bäume ausgerissen habende erste Wiedergabe erfährt eine völlige Konterkarierung durch die hochgradig mitreißende zweite. Alle fünf sind längst warmgesungen, das Publikum sitzt nicht mehr, sondern steht und macht Party, die Stimmung ist am Kochen, und sogar der Lichtmann bzw. die Lichtfrau holt nochmal eine Reserve aus der Anlage heraus. Mit diesem Höhepunkt ist dann aber endgültig Schluß, und außer eventuellen Super-Hardcore-Anhängern der Kontrollöre dürfte wohl niemand enttäuscht seines Weges gegangen sein. Chapeau! Roland Ludwig |
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