Es war die Nachtigall und auch die Krähe: Laurent Wagner gibt sein Abschiedskonzert als GMD in Altenburg-Gera
Aus der Not eine Tugend zu machen – ein Prinzip, welches das Altenburg-Geraer Theater, was den Spielort Altenburg angeht, sowieso beherzigen mußte: Das große Theatergebäude wird seit Sommer 2019 umfangreich saniert, und da keine Ersatzspielstätte zur Verfügung stand, in der man das komplette Spektrum hätte weiter aufführen können, wurden beispielsweise die Konzerte des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera hauptsächlich in die Brüderkirche verlegt. Für Schauspiel und Ballett hingegen entstand auf dem Festplatz am Großen Teich im Südosten der Stadt ein großes Zeltgebäude, wo zwar nicht die komplette Maschinerie aufgefahren werden konnte, aber trotzdem so manche denkwürdige Aufführung stattfand. Das System funktionierte so lange, bis im März 2020 der Corona-Shutdown auch das Altenburger Kulturleben praktisch auf Null herunterzufahren zwang. Da das Infektionsgeschehen in der Stadt wie auch in der Umgebung aber sehr überschaubar blieb, konnte nach den Lockerungen ab dem 12.6. wenigstens noch ein Kleinprogramm unter der Überschrift Sommertheater organisiert werden – und zwar nicht etwa im Zelt, sondern open air neben selbigem, wo kurzerhand eine mobile Bühne aufgestellt wurde, vor der jeweils in Zweiergruppen Stühle positioniert sind. Jedes der Programme wird sowohl in Gera (dort ebenfalls open air, vor der Bühne am Park) als auch in Altenburg mehrfach gespielt, es gibt Chorkonzerte, Kammermusik, eine Opern- und Operettengala und aus dem sinfonischen Sektor ein Serenadenkonzert unter dem Titel „Orchesterklänge von Herzen“. Letzteres bietet dann ein weiteres Beispiel, aus der Not eine Tugend zu machen: Man kommt mit einer überschaubaren Besetzung von 20 bis 30 Musikern aus (was die problemlose Einhaltung der Abstandsregeln auf der Bühne ermöglicht), und man kann Repertoire spielen, das im üblichen Betrieb der Philharmonischen Konzerte kaum mal zum Einsatz kommt, aber ursprünglich durchaus für solche Freiluft-Lustbarkeiten gedacht gewesen sein könnte oder das sogar wirklich war. Von Joseph Haydns drei „Tageszeiten“-Sinfonien etwa kann man sich solche Einsätze im Schloss Esterházy durchaus vorstellen. In Altenburg erklingt „Le Matin“, also die Sinfonie für den Morgen (in der Gesamtzählung der vielen Haydn-Sinfonien die Nr. 6 tragend). Dirigent Laurent Wagner nimmt das eröffnende Adagio durchaus recht zügig – sein Protagonist springt also eher aus dem Bett, als dass er sich aus selbigem herausquält. Leicht wacklig geriert er sich freilich trotzdem noch (das indes ungeplant) und ist erst im Allegro-Hauptteil des ersten Satzes richtig wach. Spätestens hier fällt dem Hörer ein kleiner Nachteil der Konstellation auf: Das Orchester spielt elektronisch verstärkt, und so gut die Soundfraktion den Klang auch eingestellt hat, die Blättergeräusche oder mal ein knarrender Stuhl werden bisweilen auch mit hervorgehoben ... Auch Satz 2 beginnt mit einem Adagio, das Wagner sehr verträumt herüberbringt, bevor der Andante-Hauptteil mit viel Eleganz schreitet. Die von Sololeistungen innerhalb des Orchesters geprägte Struktur tritt hier besonders deutlich in Erscheinung, aber auch im Trio des folgenden Menuets, wo beispielsweise Fagott und Kontrabaß in einen interessant strukturierten Dialog treten. Während Wagner im besagten Trio durchaus Tempo macht, nimmt er die Außenteile dieses Satzes bewußt rhythmisch zurück. Seine dynamischen Stärken spielt er im Allegro-Finale dann nochmal deutlich aus: Haydn hat da ein paar geniale Einfälle geparkt, was den Einbau von Verharrungen im lebhaften Ganzen angeht – aber diese so spielen zu lassen, dass sie sich organisch einfügen, das bedarf doch einer guten Hand des dirigierenden Gestalters, und die hat Wagner zweifellos, stellt man allerspätestens beim grenzgenialen Kontrabaßbreak kurz vor Schluß fest.
Igor Strawinskys Konzert für Kammerorchester Es-Dur resultierte aus einem Kompositionsauftrag zum 30. Hochzeitstag des Auftraggebers, und da jener den Landsitz Dumbarton Oaks bewohnte, erhielt das Werk kurzerhand auch diesen Namen und erlebte dort 1938 seine Uraufführung – also ein Szenario, wie man es sich auch 200 Jahre früher vorstellen könnte. Das dreisätzige Werk atmet schon im Eröffnungssatz, Tempo giusto überschrieben, eine gewisse Sprödigkeit in der Melodik, wie man sie bei Strawinsky nicht selten findet, gerät aber sehr lebendig, was die Rhythmik anbelangt, wonach der auf Einzelakkorden beruhende zurückgenommene Satzschluß aber doch etwas überrascht. Das witzige Allegretto an zweiter Position besitzt einen zirkusartigen Ausdruck und wäre auch als Soundtrack für einen Kinderfilm zu gebrauchen, in dessen Mittelteil dann etwas Geheimnisvolles passieren müßte. Wagner und das Orchester schütteln diesen Ausdruckswechsel problemlos aus dem Ärmel, auch die Wiederkehr des Zirkusteils gestalten sie nachvollziehbar – und der Hörer wird abermals überrascht, setzt der Komponist hier doch wieder so einen einzelakkorddominierten düsteren Satzschluß an. Satz 3, Con moto, hingegen würde sich als Soundtrack für einen Gangsterfilm klassischen Zuschnitts eignen. Die Wiedergabe durch die Altenburg-Geraer Musiker überzeugt sowohl mit markanten Kontrabässen als auch mit dem Mix aus Tempoattacken und gewisser Lieblichkeit, wie sie der Komponist wünschte. Die interessante Dynamikgestaltung hin zum Finale (diesmal ohne düsteren Einzelakkordschluß) gelingt ebenfalls tadellos, obwohl man sich an die spröde Melodik, sofern man kein Die-Hard-Strawinskyaner ist, auch bis dahin nur schwer gewöhnt hat.
Danach folgt ein nonmusikalischer Teil: Es handelt sich um das letzte Konzert Laurent Wagners nach sieben fruchtbaren Jahren als Generalmusikdirektor des Altenburg-Geraer Theaters, in denen er trotz begrenzter Ressourcen so manche Großtat vollbracht hat, von denen die eine oder andere auch auf diesen Seiten oder auf www.crossover-netzwerk.de rezensiert wurde. Eigentlich sollte er mit einem großen Festkonzert auf dem Altenburger Markt verabschiedet werden, aber auch dieser Plan wurde durch die pandemische Entwicklung vereitelt – die Verabschiedung fällt indes zumindest nicht ganz aus, sondern findet zumindest in diesem überschaubaren Rahmen inmitten des finalen Konzertes statt, wo angeführt von Intendant Kay Kuntze fünf Menschen kurze Dankesreden halten, Präsente überreichen und der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Wagner gelegentlich als Gastdirigent ans Pult des Orchesters zurückkehren möge, dann unter strukturell günstigeren, heißt primär virusfreien Umständen. Die letzte Oper, die Wagner vor dem Shutdown noch auf die Bühne bringen und dreimal leiten konnte, war Peter Tschaikowskis „Eugen Onegin“ – und kurioserweise ist es auch ein Werk Tschaikowskis, mit dem sich der Dirigent vom Konzertpublikum verabschiedet, nämlich dessen Serenade für Streichorchester C-Dur op. 48 aus dem Jahr 1880. Die hat historisch anmutende Satzbezeichnungen wie „Pezzo in forma di Sonatina“, womit es auch gleich losgeht: Ein breites, aber durchsichtig gestaltetes Andante non troppo überführt Wagner äußerst behutsam in den Allegro-moderato-Hauptteil, den er recht lebendig gestaltet, sich aber von Überhastungen fernhält. Leider werden die Tiefstreicher bisweilen ein wenig untergebuttert, so dass dem Gesamtresultat ein wenig Energie von unten her fehlt. Dafür gesellt sich gegen Satzende aus den Bäumen um den Festplatz eine Nachtigall hinzu, und das, obwohl der Komponist leibhaftig allenfalls deren osteuropäischen Stellvertreter, den Sprosser, hätte kennen können, was den hübschen Eindruck indes nicht schmälert. Im Valse fliegt der Vogel irgendwann davon, ist nur noch aus der Ferne und dann letztlich gar nicht mehr zu hören. Da es sich um einen Konzertwalzer handelt, muß der Dirigent bei der Tempowahl keine Rücksicht auf eventuell konditionsschwache Paare nehmen und kann unbedenklich ein relativ flottes Tempo wählen, das allerdings nicht auf Kosten der Eleganz geht und zudem relativ große Kontrastwirkungen zu den sanften Verharrungen ermöglicht. In der Elegia steht Wagner dann vor dem gleichen Problem wie jedwede Düstermetal- oder Gothicband unter ähnlichen Bedingungen: Wie soll man bei blauem Himmel, angenehmen Temperaturen, warmer Abendsonne und in diesem Fall noch dem Gegurr einer Ringeltaube eine elegische Stimmung erzeugen bzw. durchhalten? Da gerät man als Musiker schnell an Grenzen, so zurückhaltend man auch zu agieren trachtet. Die Pizzikati gelingen trotzdem bezaubernd, Wagner holt weit aus, um bedarfsweise klangliche Größe zu erzeugen, und die Nachtigall ist irgendwann auch wieder da. Nur am Satzschluß scheitern Dirigent und Orchester: Tschaikowski zieht diesen ewig in die Länge, verlangt starke Zurückhaltung beim Musizieren – und da bekommt man zumindest unter diesen äußeren Bedingungen keine Spannung rein, so sehr man sich auch Mühe gibt ...
... zumal das attacca anhängende Finale mit einem im Andante gewünschten Tema russo anhebt, das die Stimmung nicht wesentlich verändert und den Schluß des dritten Satzes noch kaugummiartiger erscheinen läßt, als er schon ist, zumal sich nicht nur beim Rezensenten, sondern auch bei anderen Besuchern mittlerweile der Rücken meldet – längere Zeit ruhig auf diesen Klappstühlen zu sitzen ist eine nicht gerade leichte Übung, wenn man nicht gerade den durchtrainierten Körper eines Zwanzigjährigen hat oder Ballettänzer ist, der sich mit allen Tricks der Körperbeherrschung auch in seltsamen Haltungen auskennt. Egal: Auffällig ist hier, dass Wagner auch nach dem Übergang in den Allegro-con-spirito-Hauptteil dieses Satzes eher unterschwellig Tempo macht, als offensiv zur Attacke auf die Feuerwasservorräte zu rufen. An Spritzigkeit gebricht es der Interpretation also ein wenig, der Energietransport klappt aber trotzdem, zumal der Dirigent in den choralartigen Passagen vor dem Finale viel Größe herausholt, bevor nochmal kurz Hochgeschwindigkeit herrscht, allerdings in kompaktem Ausmaß. Ein großes Showstück ist das nicht, das Wagner sich da als Abschiedswerk herausgesucht hat, aber vielleicht gerade deshalb repräsentativ für einen Mann, der lieber Taten sprechen lassen hat, als sich selbst in den Fokus zu rücken. Dass unmittelbar nach dem Schlußton wieder laute Vogelrufe ertönen, allerdings weder Nachtigall noch Ringeltaube, sondern eine Krähe, hätte man ihm aber doch nicht gewünscht ... Eine Zugabe gewährt der Meister nicht – aber wer das Review zeitnah nach Onlinegehen liest, hat Gelegenheit, ihn mit dem gleichen Programm am 2.7. noch in Gera zu erleben, und die Veranstaltungen des Sommertheaters dauern noch bis zum 5.7. an. Danke an Laurent Wagner für so manchen intensiven Bühnenmoment – und auf ein Wiedersehen! Roland Ludwig |
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