(K)ein Kontrafagott im russischen Äther: Currier und Tschaikowski mit Baiba Skride, Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester
Zu Beginn dieses Konzertes gehört die Aufmerksamkeit der Gesellschaft der Freunde des Gewandhauses e.V.: Der rührige Freundeskreis hat schon mehrfach dem Orchester bzw. dem Haus spezielle Instrumente finanziert, u.a. erst im Vorjahr eine Orgel für den Mendelssohn-Saal im Wert von etwa 200.000 Euro, und nun ist wieder ein „reguläres“ Orchesterinstrument an der Reihe. Gereon Röckrath, Verwaltungschef des Gewandhauses, ist sichtlich erfreut, als ihm Andreas Creuzburg, der Vorsitzende des Freundeskreises, ein Kontrafagott im Wert von 30.000 Euro übergibt. Im Konzert dieses Tages kommt der Neuzugang aber noch nicht zum Einsatz – dafür ist ein anderer Neuzugang zu verzeichnen: Sebastian Curriers Violinkonzert Aether erklingt an diesem Abend als europäische Erstaufführung; die Uraufführung hatte exakt zwei Wochen zuvor mit dem Boston Symphony Orchestra stattgefunden, gleichfalls mit Baiba Skride (Foto) als Solistin und natürlich auch mit Andris Nelsons am Dirigentenpult. Das Werk ist in vier Sätze unterteilt, deren erster und letzter nochmals in drei bzw. zwei Teile gegliedert sind, aber die Musik fließt komplett durch, und man kann bestimmte Zuordnungen allenfalls anhand der Satzbezeichnungen bzw. der eher diffusen Beschreibung im Programmheft vorzunehmen versuchen. Da das dem Rezensenten nicht gelingt, wie er feststellt, da er sich erst im dritten Satz wähnt, als das Werk plötzlich zu Ende ist (er hat keine Studienpartitur vor sich), muß die Beschreibung hier eher allgemein gehalten bleiben, und die zentrale Aussage ist, dass das Werk über weite Strecken tatsächlich so klingt, wie es heißt. Heftigere Ausbrüche bleiben erstens episodenhaft (auch wenn der zweite Satz „Lyrical and aggressive“ betitelt ist) und zweitens in der Intensität deutlich unter dem, was man von den Neutönern eigentlich gewöhnt ist – der 1959 geborene, langjährig als Professor in den USA lehrende und reich mit Preisen dekorierte Currier treibt auch die Negierung der Tonalität nicht auf die Spitze, wenngleich auch er neben dem Ton ebenso das Geräusch zum Mittel der Gestaltung macht, etwa wenn die Blechbläser nicht selten nur tonlos in ihr Instrument pusten und damit windartige Wirkungen hervorrufen. Die Violinsolistin, in ein kirschrotes Kleid gehüllt, bekommt wenig Gelegenheit zur Selbstdarstellung, zur Virtuositätsdemonstration schon gar nicht – die Dialogsituation mit dem Orchester ist dem Komponisten wichtiger, wie schnell klar wird, wenn sich Skride mit Englischhornistin Gundel Jannemann-Fischer zu einem entrückten Duett findet. Erstaunlicherweise passiert in den Dialogen oft keine gegenseitige Themenverarbeitung, sondern eine 1:1-Repetition, und generell erfolgt die stückimmanente Entwicklung in einem ultralangsamen Tempo, auch wenn das reine Spieltempo bisweilen erhöht wird. Currier demonstriert, dass er durchaus richtig schöne spätromantisch angehauchte Klanglandschaften erzeugen kann, die man locker knappe 150 Jahre in die Vergangenheit datieren würde, aber dass er nicht in der Vergangenheit lebt: Zwei Schlagwerker sind aktiv, der eine überwiegend am Vibraphon, der andere hinter einem klassisch aufgebauten Jazzschlagzeug, mit dem er bisweilen auch einen entsprechenden Groove erzeugt und das an einer Stelle so intensiv tut, dass eins der Becken umstürzt und bis zum Ende des Stückes nicht wieder aufgerichtet wird – ob das ein Unfall oder ein gewollter Effekt war, muß ohne Partiturcheck offenbleiben. Skride geht bisweilen mit ihrer Violine in die Nähe der Hörbarkeitsgrenze, Nelsons führt auch das Gewandhausorchester mitunter dorthin, und die erzeugte Spannung genügt, um den Hörer bei der Stange zu halten, wobei im Finale erstaunlicherweise selbst die diversen Huster (die üblicherweise hustenbonbongefüllten Kisten im Foyer sind an diesem Abend leer gewesen) die Stimmung nicht zerstören können. Der Ehrlichkeit halber muß man sagen, dass man sich in der halben Stunde hier und da durchaus wünscht, der Äther würde etwas zielstrebiger strömen – andererseits ist dem Werk aber allein schon aufgrund der Tatsache, dass es die moderne Violinkonzertliteratur bereichert, ohne die Tonalitätsfreunde von vornherein zu verschrecken, eine weite Verbreitung durchaus zuzutrauen. Das Gewandhauspublikum, nicht zwingend auf Modernismen und Neuheiten erpicht, spendet jedenfalls angemessenen Applaus – eine Zugabe aber gewährt die lettische Solistin nicht. Da wäre rein stilistisch auch nicht viel Angemessenes in Frage gekommen ... Peter Tschaikowskis 5. Sinfonie c-Moll op. 64 gehört zum Kernrepertoire des Gewandhausorchesters, seit Carl Reinecke und besonders Arthur Nikisch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das Werk oft auf die Spielpläne setzten und es nachhaltig im Kanon der spätromantischen Sinfoniegroßtaten verankerten. So ist die jüngste Aufführung auch erst ein reichliches Jahr her, allerdings unter dem Gastdirigenten Michaŀ Nesterowicz, während diesmal wie beschrieben Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons am Pult steht. Da der Rezensent die 2018er Aufführung nicht miterlebt hat, kann er keine Direktvergleiche ziehen und urteilt somit ausschließlich anhand des Höreindrucks dieses Abends. Wer Nelsons‘ Neigung, gewisse Bauteile und Stilartefakte gewissermaßen zu überhöhen, kennt, den verwundert jedenfalls nicht, dass die Melancholie in der Andante-Einleitung des ersten Satzes förmlich mit Händen zu greifen ist und aus den Klarinetten ein enorm stimmungsvolles Schicksalsmotiv kommt. Freilich, das können andere auch – aber den Übergang in den Allegro-con-anima-Hauptteil dieses Satzes mit einer subtilen Mixtur aus Melancholie und Lockerheit aus dem Ärmel zu schütteln, dazu bedarf es schon ganz besonderer Könner, und solche stehen bzw. sitzen an diesem Abend auf der Bühne. Freilich sind auch Gewandhausmusiker nur Menschen: Das Hauptthema gerät besonders in den Streichern zu breiig – die Könner zeichnet aber aus, dass sie die Linie schnell wieder finden, einen tadellosen zentralen Ausbruch ausbrechen lassen, dabei die nötige Energie transportieren und auch in den kammermusikalisch angehauchten Passagen hoch zu punkten wissen, wie die wunderbar murmelnden Holzsoli beweisen. Und die tief sägenden Kontrabässe und Fagotte im Satzschluß haben sowieso ihren ganz eigenen Charme. So könnte es weitergehen – und so geht es im zweiten Satz, Andante cantabile con alcuna licenca, auch tatsächlich weiter. Eine ultradüstere und trotzdem warm wirkende Einleitung spielen zu lassen schafft in dieser Form aktuell nur Nelsons, das butterweiche Solohorn liegt in der Nähe der Ideallinie, die Dynamikentwicklung geht als lehrbuchreif durch, die plötzliche Dramatik wird perfekt aus dem Ärmel geschüttelt, und der Musikhistoriker entdeckt ein Motiv, das wie ein Vorbote für Schostakowitschs berühmtes Invasionsthema aus der Leningrader Sinfonie wirkt, hier freilich erst zerfasert und dann in ein liebliches Nichts führt, anstatt sich zu einem alles niederwalzenden Monster zu entwickeln. Die Rückführung in Richtung des Äthers am Satzende geschieht weniger extrem als bei Schostakowitsch, aber das erwartet von einem 50 Jahre früher geschriebenen Werk ja auch niemand. Der Valse mit der Tempobezeichnung Allegro moderato an dritter Satzposition ist natürlich kein Walzer im hergebrachten Sinn, nicht einmal ein Konzertwalzer, aber ziemlich schwingend kommt er doch von der Bühne gehopst. Nelsons bewegt sich auf seinem Pult recht intensiv, die Hörner dürfen „Schweinchen“ spielen, und die grundsätzliche Eleganz paßt auch – nur die Streicher agieren bisweilen ein wenig zu verhuscht. Die Kontrastwirkung zu den sechs Schlußschlägen lebt von der relativen Zurückgenommenheit des Satzes und der doch beträchtlichen Heftigkeit der Schläge. Die Andante-maestoso-Anweisung für die Einleitung des Finales nimmt Nelsons wörtlich und greift nach enorm viel Raum, was die Feierlichkeit des Blechchorals noch unterstützen hilft. Der Allegro-vivace-Hauptteil kommt dann recht energisch von der Bühne gefegt, läßt aber noch genug Dynamikluft nach oben, obwohl die Pauken schon hier viel Druck erzeugen und das Orchester in einen intensiven Flow gerät, zumal wenn Tschaikowski quasi eine Frühform des Offbeats zur Anwendung bringt, für deren Ausprägung u.a. die Kontrabässe zuständig sind. Einzelne Verharrungen bleiben in großer Lieblichkeit, der gelegentliche Lärm besticht durch seine Transparenz – aber eben jener letztgenannte Fakt wird dem Ganzen überraschend zum Verhängnis: Dem groß gedachten Schicksalsthema aus den Streichern geht die Größe irgendwie verloren, das Satzfinale setzt keinen Gipfelpunkt, sondern kapituliert irgendwo am Berghang, der Energietransport klappt plötzlich nicht mehr, und das kann auch nicht durch ein Extra an Zackigkeit wettgemacht werden. Da Orchester und Dirigent zuvor eine knappe Stunde lang eine überwiegende Meisterleistung vollbracht haben, ist dieses Abkippen nach hinten um so unerklärlicher. Aber in der Gesamtbetrachtung bleiben die Trümpfe dennoch klar in der Überzahl. Interessant ist die Finalstruktur: Nelsons läßt keine Spannung stehen, sondern sinkt quasi noch im Schlußakkord zusammen, so dass auch der Applaus sofort losbricht und recht intensiv ausfällt – nach drei Vorhängen beendet Konzertmeister Frank-Michael Erben die Versammlung auf der Bühne aber relativ abrupt, obwohl die Anwesenden gerne noch einen vierten Vorhang gewährt hätten. Der Rezensent geht mit Erbens Applausmanagement nicht immer konform, an diesem Abend aber schon: Das seltsame Finale ist kein Grund zu allzu überschwenglichem Jubel – die Genialität weiter Teile der vorgelagerten Wiedergabe freilich schon. Roland Ludwig |
|
|
|