Cage, J. (Knoop, M. - Thomas, Ph. u.a.)
Wintermusic - Two²
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik Klavier
VÖ: 01.05.2018
(anothertimbre 1 bzw. 2 CD / AD 2014 und 2016 / DDD / Best. Nr. at 118 und at 124x2)
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HAPPY NEW EARS!
Zwei neuere Cage-Produktionen des englischen Labels anothertimbre.com, einem Spezialist für avantgardistisch-reduzierte Klangwelten, spiegeln die reichen Möglichkeiten, die John Cage den Zufallsoperationen in seiner Musik abgewonnen hat. Ganz im Sinne seines Mottos "Happy New Ears" können sie durchaus Ohrwonnen erzeugen.
Cage sah seine Aufgabe vor allem darin, die richtigen Fragen zu stellen: Fragen nämlich, deren Anwendung und Beantwortung im Hinblick auf ein bestimmtes Material zu zwar unberechenbaren - zufälligen - aber ästhetisch dennoch bemerkenswerten Ergebnissen führen sollten. Die Befreiung der Klänge aus traditionellen kompositorischen Strukturen und von den Geschmacksurteilen des Komponisten wie auch der Ausführenden und schließlich der Zuhörenden ist mitnichten mit Beliebigkeit zu verwechseln und erfordert von allen Beteiligten ein höchstmaß an Disziplin.
Im Fall von Wintermusic (1957) besteht das Aufführungsmaterial aus zwanzig separaten Blättern, die im Ganzen oder in Teilen in einer beliebigen Reihenfolge von einem bis zu zwanzig Pianisten aufgeführt werden können. Die Ausführenden legen zunächst die Gesamtdauer fest und und übertragen diese dann anteilig auf die Seite(n), die gespielt werden sollen; die Aufführung jeder Seite dauert also gleich lang. Jede Seite enthält 5 Systeme, notiert auf 5 Takte. Auf einigen Seiten ist die Ereignisdichte sehr gering, auf anderen sehr hoch. Überwiegend bestehen die Ereignisse aus Noten-Aggregaten. Die Ausführenden sind frei, was die Gestaltung der Dynamik, Resonanzen, Überlagerungen und Durchdringungen der Klänge angeht. Die Aggregate sind sowohl das Ergebnis von Zufallsoperationen mit dem I Ching wie auch der Einbeziehung von Unebenheiten des Papiers, auf dem die Musik geschrieben wurde. Das Stück kann mit anderen Cage-Kompositionen wie dem Orchesterwerk "Atlas Eclipticalis", das auf Sternenkarten beruht, oder den "Song Books" aufgeführt werden.
In diesem Fall haben die vier Pianisten Mark Knoop, Catherine Lewis, Philip Thomas und John Tilbury die 20 Blätter zufällig unter sich aufgeteilt und, nachdem sie sich auf eine Gesamtaufführungsdauer von 40 Minuten geeinigt haben, jede(r) für sich für ihr Material unabhängig von den anderen für eine Aufführung ausgearbeitet. Das "Werk" wurde dann überhaupt erst bei der Aufnahme gemeinsam aufgeführt und in dieser einmaligen Version mitgeschnitten.
Es versteht sich, dass man hier keine traditionellen Melodien, Harmonien oder rhythmische Pulsation erwarten darf. An all dem sind weder Cage noch die vier Interpreten interessiert. Es geht vielmehr um die Gegenwärtigkeit von Klang, der frei von jeder Intention und strukturellen Organisation in jedem Augenblick ganz als er selbst gehört werden kann. Das ganze Verfahren dient dazu, die Kontrolle über den Klang aufzuheben und einen offen-kreativen Realisations- und Hör- und Erlebnisprozess anzustoßen.
Das Ergebnis ist, fernab von konventioneller Schönheit, bemerkenswert sinnlich und schön. Um dies zu erleben, muss man kein Zen-Buddhist sein. Die Interpret*innen bringen sämtlich die nötige Erfahrung, Kompetenz und Disziplin mit, um Cages Vorlagen in Musik zu verwandeln. Die ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass das Stück buchstäblich erst bei der Aufnahme verwirklicht wurde und dass keiner der vier wusste, was der andere aus seinem Material machen würde.
Doch ob es sich nun um gespinnsthafte Klangverästelungen in den hohen Registern oder massive Clusterballungen in den tiefsten Lagen, ob es sich um Einzeltöne oder Akkorde oder ob es sich um mehrtönige Fragmente handelt: Jeder Klang ist präzise durchgeformt und wird mit Bestimmtheit gesetzt. Die Aufführungsdauer von 40 Minuten sorgt dafür, dass all dies entspannt und besonnen geschieht. Es ist immer ausreichend luftige Stille um die Ereignisse herum: Die Klänge können atmen und sich den nötigen (Resonanz)Raum nehmen. So ist auch viel Gelegenheit für sehr Zartes, für dynamische Differenzierungen an der Hörbarkeitsgrenze. Diese Wintermusic ist, anders als vielleicht erwartet, eine Meditatiosmusik, die sich nicht in esoterische Klangnebel verflüchtigt, sondern die Zuhörenden in jedem Moment zu höchster Wachheit und Konzentration ruft. Man will von all den wundersamen Ereignissen ja schließlich kein einziges verpassen ...!
Luftigkeit und Stille kennzeichnen auch die zweite Produktion: Two² aus dem Jahr 1989 stammt aus dem Spätwerk von Cage; es gehört zu den sogenannten "Number Pieces", bei denen sich der Titel von der Zahl der Ausführenden ableitet; die Hochzahl gibt an, um das wievielte Stück mit der jeweiligen Besetzungsstärke es sich jeweils handelt. Bei den Number Pieces zeigt der Komponist ein ausdrückliches Interesse an Harmonik - ein Aspekt, der ihm vorher relativ gleichgültig war, der nun aber gleichsam "illegal" und "anarchisch" Eingang in seine Musik gefunden hat.
Two² ist für zwei Pianisten geschrieben. Es besteht aus 36 Notenzeilen à 5 Takte, welche jeweils 31 Ereignisse enthalten, und zwar aufgeteilt nach dem Schema 5 + 7 + 5 + 7 + 7, der Silbenzahl einer Strophe des japanischen renga, einer Form des Kettengedichts. Cage hat in diesem Fall mit einem Computer die Zufalls-Akkorde und ihre Anordnung bestimmt. Die relativ durchsichtigen, meist mit einer Hand problemlos ausführbaren Akkorde sollen so ebenmäßig wie möglich gespielt werden, so dass immer ein Gesamtklang zu hören ist.
Dabei finden sich einfache Dreiklänge neben harmonisch komplexen Akkorden, Konsonantes und mehr oder weniger Dissonantes, gelegentlich begegnen auch schlichte Einzeltöne. Das Elaborierte steht also neben dem Gewöhnlichen, das Eingängige neben dem Kunstvollen. Und das alles gänzlich unvermittelt und doch seltsam sinnfällig. Ganz im Sinne des Zen kann man die Frage: "Was ist der beste Klang?" beantworten mit: "Hier ist alles der beste Klang." Kunst und Alltag, Kunst und Leben werden eins - Cages Ideal.
Anders als bei den meisten Number Pieces gibt es bei diesem Stück keine Zeitklammern, die angeben, in welchem Zeitintervall ein bestimmtes musikalisches Ereignis begonnen und beendet werden soll. Angelehnt an einen Ausspruch der Komponisten Sofia Gubaidulina, es gebe eine "innere Uhr", sind die Spieler dieses Mal frei, bei ihrem Part den Einsatz und das Ende zu bestimmen; allerdings kann der nächste Takt erst begonnen werden, wenn beide den vorherigen abgeschlossen haben.
Von Two², das relativ selten aufgeführt wird, gibt es Aufnahmen von 40 und 70 Minuten Dauer. Den Pianisten Philip Thomas hat das Stück deswegen lange Zeit nicht überzeugt, weil es ihm da zu viele Noten in zu kurzer gab, das Stück gleichsam zu voll wirkte - "Cage's mistake". Erst nachdem er sich mit Cages umfangreichen Skizzen zu dem Stück befasst hat, realisierte er, dass ein noch wesentlich langsameres Tempo bei der Ausführung möglich war und hat seiner inneren Uhr vertraut.
Zusammen mit Mark Knoop hat er eine rund zweistündige Version eingespielt, die von großer Ruhe und besonderem Resonanzreichtum geprägt ist. Man hört ein Cage-Stück, dass sich mit den späten Klavierstücken Morton Feldmans berührt und doch ganz anders ist. Bei Cage bleiben die Klänge einzelne Ereignisse in der Stille, sie entwickeln sich nicht zu Patterns - auch wenn die unsystematischen Akkordwiederholungen etwas derartiges suggerieren mögen. Wenn man der Musik lauscht, ähnelt der Eindruck dem Blick hinaus auf einen ruhigen See, dessen Oberfläche sich durch gelegentliche Regentropfen und Wellenbewegungen leicht kräuselt. Und wie bei Wintermusic gibt es eine eigenartige, berührende Melancholie. Die überlegte, konzentriert langsame Darbietung steigert den sublimen kontemplativen Charakter der Musik noch einmal.
Aufnahmetechnisch ist auch diese Einspielung von höchster Qualität, der Label-Gründer und Tontechniker Simon Rynell hat bei beiden Produktion vorbildliche Arbeit geleistet: Die Klaviere scheinen tatsächlich in aller sonoren Pracht, doch niemals aufdringlich im Raum des Hörers zu stehen. Wintermusic ist in der Ausreizung der dynamischen Extreme - man soll den Volumenregler ruhig etwas aufdrehen - noch einmal eine besondere Wonne für die Ohren.
Georg Henkel
Besetzung |
Mark Knoop, Catherine Lewis, Philip Thomas, John Tilbury: Klaviere
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