Förderer und Geförderter: Der Leipziger Hochschulchor kombiniert Werke von Brahms und Dvorák




Info
Künstler: Chor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig

Zeit: 15.06.2018

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Fotograf: imslp.org

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

Stehen an der Leipziger Musikhochschule sinfonische oder chorsinfonische Aufgaben an, übernimmt den Orchesterpart meist das hauseigene studentische Sinfonieorchester – aber diese Regel bleibt nicht ohne Ausnahmen. Zu den langjährigen, gelegentlich zum Einsatz kommenden externen Partnern zählt der heute unter Leipziger Symphonieorchester firmierende, zuvor u.a. Westsächsisches Symphonieorchester genannte Klangkörper, der auch an diesem Abend zum Einsatz kommt, als der Hochschulchor zwei chorsinfonische Werke auf die Bühne des Großen Saales bringt.

Das Konzert beginnt mit dem Schicksalslied op. 54 von Johannes Brahms. Dirigent Tobias Löbner muß dabei zunächst mit etlichen Wacklern in der langen orchestralen Einleitung auskommen – die fahle Klangfarbe, die das klein besetzte Orchester hier an den Tag legt, dagegen ist thematische Absicht. Allerdings dauert es geraume Zeit, bis das gewünschte Miteinander hergestellt ist, so daß sich bis dahin ein etwas seltsamer Eindruck einstellt, wenn etwa die trotz geringer Kopfzahl recht dominanten Tiefstreicher gefühlt einen komplett anderen Rhythmus spielen als den, den der Chor singt. Der Chor selbst macht seine Sache gut, wenngleich einige wenige Höhen der Soprane einen Deut zu angestrengt anmuten – dafür gelingt die Klangmischung der weiblichen und männlichen Stimmen gut. Löbner nimmt das Tempo nicht zu schleppend, und wie er seine Mitstreiter die beiden großen Dramatisierungen förmlich aus dem Ärmel schütteln läßt, erlaubt dem Zuhörer zu ahnen, welche Qualität diese Besetzung zu evozieren in der Lage ist. Leider gelingt das nicht durchgängig, und so fasert etwa der Chor im ruhigen Part zwischen diesen beiden Dramatisierungen deutlich zu sehr aus. Im Finale entspinnt sich ein eigentümlicher Mix aus richtig schönen eskapistischen Passagen und einigen instrumentalen Wacklern, der das Publikum so sehr verwirrt, daß keiner klatscht – erst als Löbner das Podium schon verlassen hat und auf halbem Weg in den Backstageraum ist, entscheiden sich die Anwesenden doch noch, zu applaudieren.

Als Kirchenkomponist ist Antonín Dvorák deutlich weniger im kollektiven Musikgedächtnis verankert als beispielsweise als Sinfoniker, obwohl er auch in diesem Sektor einige hochinteressante Werke hinterlassen hat, die sich bei seinen Zeitgenossen sogar internationaler Beliebtheit erfreuten – in einem Konzertprogramm Werke von ihm mit solchen von Brahms zu koppeln hingegen ist allein schon dahingehend logisch, weil letzterer ein wichtiger Förderer der Karriere des bis dahin außerhalb seiner böhmischen Heimat wenig populären Dvorák war, obwohl die beiden künstlerisch durchaus verschiedenartige Wege beschritten. Daß Dvoráks Messe D-Dur mit der 86 die gleiche Opuszahl trägt wie Beethovens Messe C-Dur, die weniger bekannte von dessen beiden großen Messkompositionen, dürfte hingegen wohl Zufall sein, zumal es sich bei Dvoráks Werk eher um eine Gelegenheitskomposition handelt, die der Architekt Josef Hlavka zur Weihe einer Kapelle bestellt hatte. Was er 1887 bekam, war ein Werk für Chor, Soli und Orgel, das der Komponist selbst fünf Jahre später zu einer Orchesterfassung erweiterte, die allerdings trotzdem nicht ohne Orgel auskommt.
Das Kyrie besitzt hier nur eine winzige Instrumentaleinleitung, die trotzdem bereits eine Art Wellenbewegung andeutet, welche sich dann in den Chorstimmen fortsetzt (siehe die oben abgebildete historische Abschrift). Immer noch schmecken die Tiefstreicher im Gesamtmix bisweilen allerdings etwas vor, was hier die Chorherren ins klangliche Abseits stellt – ein Problem, das der Dirigent erst schrittweise in den Griff bekommt. Das Solistenquartett aus Sopranistin Viktorija Narvidaite, Altistin Kristin Einarsdóttir Mantyla, Tenor Christopher Renz und Bassist Simeon Nachtsheim agiert anfangs fugiert, und was der Chor wirklich kann, erkennt man in den kurzen A-cappella-Einwürfen.
Im Gloria gelingt der Mix aus Orchester und Chor dann deutlich ausgewogener – trotz recht zackiger Anlage hört man den Chor ab jetzt prima durch, freilich neben den vielen hochqualitativen Passagen auch die kleinen Wackler wie die enorm angestrengten Tenöre im Laudamus. Analytiker bemerken interessiert, daß sich Löbner im Disput zwischen den „Exzelsis“- und den „Exchelsis“-Aussprache-Anhängern auf die Seite der erstgenannten schlägt. Im „Gratias“ tritt zum ersten Mal die Orgel markant in den Vordergrund, und auch ihr entströmen schöne romantische Klangfarben. Daß auch die Extreme mittlerweile sitzen, beweisen das wunderbar fragile „miserere nobis“ einerseits und Löbners gekonnte Beherrschung der Klangmassen im bombastischen Satzschluß andererseits.
Hatte man die Solisten bisher nur in Ensemblefunktion gehört, so ändert sich das mit dem Credo, wo zunächst die Altistin solistisch gefordert ist und eine angenehm hörbare Stimme offenbart – wenn man sie denn hört: Sie wirkt noch kraftloser, als man das von diesem Stimmfach eigentlich gewöhnt ist, und nur weil sich die Sopranistin im bald folgenden SAB-Trio stark zurücknimmt, entsteht dort eine Art Ausgewogenheit, während der Bassist mit Klarheit überzeugt, ebenso wie der in „Et resurrexit“ übernehmende Tenor. Dafür, daß die Altistin und die Celli sich klangfarbentechnisch im „Et Spiritus Sanctus“ im Weg stehen, können die Musiker freilich nichts, und die komponierte Schlußwendung des Satzes animiert Teile des Publikums zu in diesem Falle nun wiederum verfrühtem Applaus ...
... denn es kommen ja noch vier Sätze, auch wenn die teilweise deutlich kürzer sind als die drei bisher gehörten, wenngleich auch die nicht unbedingt Überlänge aufgewiesen haben – die Gesamtspielzeit der Messe beläuft sich ungefähr auf eine Dreiviertelstunde, was diverse Komponistenkollegen deutlich ausschweifender konzipiert haben. Da wäre zunächst ein knackig-kurzes Sanctus, wo das Orchester beweist, daß es auch paßgenaue Offbeats liefern kann, bevor die ruhige Einleitung des Benedictus wieder von der Orgel gestaltet wird. Dessen Aufbau dramatisiert sich dann gekonnt, die Solisten agieren wieder als Quartett, wobei die Sopranistin eine schöne gedeckte Stimme eher in Mezzolage ins Feld führt, während der Bassist trotz jugendlichen Alters schon eine beeindruckende Tiefe erzeugen kann. Das ziemlich gepfefferte Hosanna ist noch kürzer als das Sanctus und schon wieder verflogen, als man sich stimmungsmäßig gerade darauf eingestellt hat, während im Agnus Dei noch einmal Balanceprobleme auftreten: Löbner läßt das Orchester weiter von der Leine, was das Solistenquartett prompt ins Abseits stellt, während sich der Chor diesmal klanglich behaupten kann, bis der Dirigent die Lage wieder im Griff hat. Nach hinten heraus hat der Komponist allerdings sowieso keinen Schlußbombast vorgesehen, sondern im Gegenteil wird das Werk immer zarter und endet sozusagen im Äther, was Löbner und die Musiker zwar nicht bis ins Letzte ausreizen, aber trotzdem einige Spannung erzeugen. Der diesmal an der richtigen Stelle und zum richtigen Zeitpunkt losbrechende Applaus aus dem gut gefüllten Publikumsraum ist denn auch verdient und rundet ein insgesamt gutes Konzert ab, in das nur zwei kleine Wermutstropfen fallen: Erstens wird der Organist zum Schluß nicht gesondert mit Applaus bedacht (man sieht ihn nicht mal, da der Chor wie eine Mauer vor ihm steht), und zweitens ist das Konzert insgesamt recht kurz: Nach einer Stunde fällt der Vorhang bereits – was freilich dem Rezensenten noch die ungeahnte Möglichkeit bietet, auf der Heimfahrt im Radio noch Mahlers Auferstehungssinfonie zu lauschen ...


Roland Ludwig



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