Wer ist Mephistopheles? Mozarts Don Giovanni an der Leipziger Musik- und Theaterhochschule




Info
Künstler: Wolfgang Amadeus Mozart

Zeit: 25.05.2017

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Fotograf: Siegfried Duryn

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

In den Opernprojekten der Leipziger Hochschule vermischen sich deren Sparten Musik und Theater naturgemäß in besonders glücklicher Weise, auch wenn letztlich die Musikfraktion doch zumeist die dominierenden Rollen ausübt. Das stört den Rezensenten nicht, der sich der Kunstform Oper sowieso von der musikalischen Seite aus nähert und auch konzertante Opernaufführungen zu schätzen weiß. Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni nun steht als aktuelles Hochschulopernprojekt in Vollgestalt an, verdeutlicht allerdings an ungeahnter Stelle das alte Motto „Weniger ist mehr“.

Auf die strukturelle Komponente trifft das zunächst aber nicht zu: Sechs Vorstellungen sind anberaumt. Der Rezensent sieht die letzte der sechs, und auch diese darf das „Ausverkauft“-Prädikat für sich beanspruchen. Damit die Studenten nun nicht sechs Abende am Stück agieren müssen, gibt es eine jeweils alternierende A- und B-Besetzung, übrigens nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Orchestergraben, wo einzig die Mandolinistin und die drei Posaunisten alle sechs Abende durchspielen. Zudem ist auch Dirigent Matthias Foremny nur die ersten vier Abende im Einsatz, während Vorstellung 5 und 6 unter studentischer Leitung stehen. Der Rezensent erlebt in letztgenannter Gaudens Bieri im 1. und Nathan Bas im 2. Akt, also genau die beiden gleichen Studenten wie im Hochschulorchester-Sinfoniekonzert am 21. Januar. Und um es vorwegzunehmen: Beide Dirigenten entledigen sich ihrer Leitungsaufgaben mit ziemlicher Souveränität. Bieri nimmt die Ouvertüre in deren langsamer Einleitung zwar noch ein wenig zu blockhaft, findet im schnellen Teil aber dann den nötigen Fluß und kann diesen auch aufrechterhalten. Bas hat keine Ouvertüre, sondern muß im zweiten Akt gleich voll ins Geschehen hinein, und obwohl die Hornisten bisweilen beweisen, dass sie ein recht schweres Instrument spielen, so gelingt doch auch dieser Teil überwiegend richtig gut. Zu bemerken ist, dass das Anspruchsniveau für die Musiker in konditioneller Durchspielhinsicht recht hoch angesiedelt ist, was in der Konzeption der Aufführung begründet liegt (dazu gleich mehr). Spezialapplaus bekommt Cembalist Damian Ibn Salem, der im zweiten Akt die Sonderaufgabe übernimmt, zwei kurze Umbauszenen auf offener Bühne musikalisch zu untermalen, und er tut das mit schaurig-schönen Harmoniegebilden, die die Stimmung an den betreffenden Stellen gekonnt unterstreichen, das Publikum aber eher zu Heiterkeit animieren.

Was hier im Kleinen beschrieben ist, trifft auch auf die Inszenierung im Großen zu. Regisseur Matthias Oldag ist ja durchaus bekannt dafür, Opern des gängigen Kanons alternative Deutungen abgewinnen zu wollen, die mal mehr, mal weniger nachvollziehbar erscheinen, und dieser Don Giovanni reiht sich in diese Riege ein, wobei er, das sei vorweggenommen, zur nachvollziehbaren Kategorie zu zählen ist. Interessanterweise führt das Programmheft seinen Leser zwar auf die richtige Spur, aber letztlich doch in die Irre: Den faustischen Charakter der Titelrolle hat schon Bence Szabolcsi in ihrer 1968 erschienenen Abhandlung „Mozarts Faustische Dramaturgie“, aus der das Programmheft einen Ausschnitt zitiert, herausgearbeitet. Nur geht es dort um die Hauptcharaktere Faust bzw. Don Giovanni, indes nicht um deren strukturimmanenten Unterschied: Faust wird von Mephistopheles getrieben, Don Giovanni hingegen verkörpert beide Elemente gleichzeitig. Diese Struktur löst Oldag in seiner Inszenierung auf, indem er den mephistophelischen Charakter aus Don Giovanni herauslöst und statt dessen der Diener Leporello, der anfangs wie ein simpler Hedonist und Rocker gezeichnet wirkt (und man vermutet, eine Deutung in der Konstellation, dass es sich auch beim Darsteller des Don Giovanni um einen Langhaarigen handelt, zu finden – man erinnere sich an Kiss-Bassist Gene Simmons, der sich gern mit seinem „Frauenverbrauch“ brüstete), sich im Vorschlussbild als Mephistopheles entpuppt, der Giovanni gemäß dem alten Motto „Man glaubt zu schieben, und man wird geschoben“ zu seinen Beutezügen im Reich der Frauen angestiftet hat und dafür zum Schluß reiche Seelenbeute in der Hölle in Empfang nehmen kann – nicht nur die von Giovanni übrigens: Das Vorschlussbild mit Giovannis Höllenfahrt entpuppt sich als Schlussbild, denn das eigentliche Schlussbild, in dem Giovannis weibliche Opfer samt der zugehörigen Männer den Sieg über den Schwerenöter feiern, fehlt bei Oldag, und zwar aus gutem Grund: Auch alle weiblichen Opfer sind tot, die zugehörigen Männer erwecken den Eindruck, als seien sie vom Charon auch nicht weit entfernt, und ob Leporello hier noch weitere Seelen ernten darf, bleibt zwar offen, ist aber durchaus nicht unwahrscheinlich.

Mit welchem Feingefühl Oldag diese ungewöhnliche, aber bei genauer Betrachtung eigentlich auf der Hand liegende Giovanni-Leporello-Konstellation in Szene setzt, zeigt sich im zweiten Akt, als Giovanni und Leporello schon gemäß dem Original-Libretto die Rollen tauschen, in der Inszenierung ab diesem Moment aber auch ein gewisser Charaktertausch stattfindet und jeder einige Eigenschaften des anderen übernimmt: Giovanni wird durchaus unternehmender und brutaler, Leporello zeigt in der Szene, als die Statue des toten Komturs sich zum Abendessen ankündigt, so verwirrt und handlungsunfähig wie Giovanni in vielen Momenten des ersten Aktes.

Bei der starken Fokussierung auf den Eigenschaftentausch dieser beiden Figuren ist klar, dass die anderen Handelnden zurücktreten müssen, auch wenn Oldag versucht hat, zumindest hier und da gegenüber dem Originalentwurf noch eine Profilschärfung vorzunehmen. Donna Anna etwa macht keineswegs den Eindruck, als sei ihr Giovannis Anwesenheit in der eröffnenden Bettszene unrecht, und Zerlina zeichnet der Regisseur noch stärker als Flittchen. Dass bisweilen eine stärkere Ironisierung des Originalplots nötig war, versteht sich von selbst und findet beispielsweise seinen Widerhall gegen Ende des ersten Aktes, als Donna Elvira, Donna Anna und Don Ottavio auf Don Giovannis Kostümfest gehen und sich vorher, da sie vor dem Gastgeber fürchterliche Angst haben, gegenseitig diese Angst gestehen, zur entsprechend langsam-spannenden Musik Leporello im Bühnenhintergrund aber einen modernen Zeitlupentanz aufführt, der das Publikum zu an dieser Stelle sonst völlig seltsam wirkenden Lachstürmen hinreißt.

Apropos Bühne: Die unterstreicht das genannte „Weniger ist mehr“-Motto prima, denn die etwas ansteigende ebene Fläche ist grundsätzlich leer und wird nur sehr sparsam mit einzelnen Gegenständen dekoriert, im ersten Akt mit einem multifunktionalen riesigen Bettlaken, im zweiten Akt mit einem Sarg, der auch als Festtafel umfunktioniert wird. Das reicht für die angestrebte Wirkung problemlos aus, und der abschließenden Essenschlacht hätte es eigentlich gar nicht bedurft. Barbara Blaschkes Kostüme bleiben zeitlich neutral, der nicht nur fürs Bühnenbild, sondern auch für die Beleuchtung zuständige Oldag setzt allerdings auch letztere auf ebenso sparsame wie geschickte Weise ein, um zwar einzelne Hervorhebungen vorzunehmen, aber sonst keine vom Hauptwechsel der Inszenierung ablenkende Wirkung befürchten zu müssen. Die Projektion an der Bühnenrückwand zeigt übrigens eine attraktive liegende Frauensilhouette, die sich die ganze Zeit über nicht verändert, also, nachdem man sie einmal identifiziert hat, auch nicht mehr als Ablenkung vom eigentlichen Geschehen wirkt.

Dass Frederik Tucker als Don Giovanni und Ricardo Llamas Marquez als Leporello auch stimmlich im Mittelpunkt stehen, sollte keiner Erklärung bedürfen und spiegelt sich auch im Schlußapplaus wider, obwohl etwa Carolin Schumann als Donna Elvira, Ayda-Lisa Agwa als Zerlina und Henrike Henoch als Donna Anna für ihre jeweiligen Bravourarien zuvor schon starken (und verdienten!) Szenenapplaus bekommen haben. Frieder Flesch gibt Masetto souverän als mit der Lage völlig überforderter Angehöriger der unteren Gesellschaftsschicht, Robert Pohlers als Don Ottavio folgt der üblichen Rollenprägung, dass er stimmlich gegen seine Verlobte Donna Anna keinen Stich zu sehen hat, und Jonas Atwood als Komtur wird am Schluß zur Verstärkung der Jenseitswirkung noch über ein Mikrofon abgenommen und leicht angezerrt. Alle Sänger wissen, was sie tun, und können auch spielerisch überzeugen – über die Qualität der italienischen Aussprache maßt sich der Rezensent kein Urteil an, aber für alle, die wie er dieser Sprache kaum mächtig sind, gibt es Übertitel in teils sogar recht jugendgemäßer, aber nie ins Platte abgleitender Sprache. So gelingt Matthias Oldag und seinen Mitstreitern eine überraschende Deutung (und Verschiebung des Mozartschen Buffa-Seria-Hybriden in die Seria-Richtung) in hoher Qualität.


Roland Ludwig



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