Musik an sich


Reviews
Boulez, P. u. a. (Atteln – Stiehler)

Pierre Boulez and the Lucerne Festival Academy (Inheriting the future of music)


Info
Musikrichtung: Neue Musik Dokumentation

VÖ: 12.04.2010

(EuroArts / Naxos DVD / live 2007-2009 / Best. Nr. 2058048)

Gesamtspielzeit: 128:00



ERBEN DER AVANTGARDE

Dieser freundliche ältere Herr wollte also als junger Mann noch alle Opernhäuser in die Luft jagen? Mit seinen 85 Jahren wirkt Pierre Boulez zwar immer noch erstaunlich frisch und dynamisch, hat aber eigentlich nichts von jenem Revoluzzer und Neue-Musik-Diktator an sich, als den man ihn früher gerne bezeichnet hat.
Inzwischen gehört er zu den letzten lebenden Vertretern jener Avantgarde-Generation, die nach 1950 die klassische abendländische Musik gleichsam neu erfinden wollten. Dabei – und Boulez sagt dies in der vorliegenden Dokumentation auch ausdrücklich – sah man sich durchaus in der musikalischen Tradition stehend. Freilich nicht in jeder. Boulez Ahnen hießen Debussy, Stravinsky, Messiaen und Webern. Da trafen französische Orchesterkunst auf die deutsch-österreichische Vorliebe fürs Konstruktivistische. Irisierende Klangfarben, rhythmische Komplexität und abstrakte Formprozesse kennzeichnen seitdem in wechselnder Dominanz Boulez Musik. Konzertausschnitte mit eigenen Werken in den Extras zeigen, was der Altmeister, der heute mehr als Dirigent denn als Komponist tätig ist, an schillernden Texturen und orchestralen Mixturen zu bieten hat. Diese eher späten Stücke aus den 1980er und 90er Jahren, darunter Ausschnitte aus der elktroakustischen Raumklangmusik Répons und die fünf orchestralen Notations, zeigen denn auch, dass die totale Abstraktion schon längst einer eleganten, klanglich luxuriösen und spielerisch-virtuosen Schreibweise gewichen ist. Mag der Anspruch auch groß sein und das Ohr gefordert: Der Hörer darf auch genießen.

Die jüngere Generation, als deren engagierter Mentor und Lehrer Boulez in der Dokumentation vorgestellt wird, sieht das sowieso alles viel gelassener. Die Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Komponisten und Dirigenten ist für die handverlesenen internationalen Nachwuchsmusiker der Lucerne Festival Academy ein großes Privileg. Neue Musik ist einfach eine Selbstverständlichkeit. Ihre Herausforderungen machen sie attraktiv. Disziplin und die Bereitschaft, in langwierigen Proben über sich hinauszuwachsen, gehören dazu. Denn bei aller Freundlichkeit: Als Sachwalter der Musik ist Boulez unbestechlich; auch gestandene Jungdirigenten sehen sich da plötzlich wieder in der Schülerrolle. Es wird nicht über Sinn und Zweck neuer Stücke diskutiert, schon gar nicht über Klassiker wie Stravinskys Sacre oder Debussys Jeux; allein um handwerkliche und künstlerische Qualitäten geht es.
Wenn eine Gruppe von Jungdirigenten Stockhausens Gruppen probt, bis nach endlosen Runden die drei besten für das Konzert übrig geblieben sind, dann zeigt das, wo diese einst als unaufführbar (und –hörbar) geltende Musik inzwischen angekommen ist: im Repertoire.
Und der dreißigjährige Komponist Ondrej Adámek nimmt nicht nur durch sein Können und seinen Enthusiasmus für sich ein, sondern auch, wie er über sein Stück Endless Steps spricht. Er denke immer auch ans Publikum und wie die Musik auf dieses wirke. Angepasst und konventionell klingt sein phantasievolles Stück voller Klangexperimente darum nicht. Aber auch in den kurzen Ausschnitten geht es doch sofort ins Ohr, macht Lust auf mehr. Pierre Boulez dürfte zufrieden sein – die Zukunft der Neuen Musik hat gerade wieder mal begonnen.



Georg Henkel



Trackliste
Dokumentation: 57:00
Bonus mit Konzertausschnitten: 71:00
Besetzung

Regie: Günter Atteln und Angelika Stiehler
Produktion: Paul Smaczny




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