Ein faszinierendes Bindeglied: Chemnitzer Erstaufführung der einzigen vollendeten Sinfonie von Hans Rott




Info
Künstler: Robert-Schumann-Philharmonie

Zeit: 20.04.2023

Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal

Fotograf: Lennard Ruehle

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Das 7. Sinfoniekonzert dieser Saison der Robert-Schumann-Philharmonie hätte eigentlich Stefan Soltesz dirigieren sollen, der aber im Juli 2022 überraschend verstarb. So übernimmt der hauseigene Chemnitzer GMD Guillermo García Calvo die Leitung, allerdings mit einer kleinen zeitlichen wie inhaltlichen Umstrukturierung: Er hat dafür die Leitung des 2. Saisonkonzertes an einen Gastdirigenten weitergegeben, die dort unter seiner Stabführung eigentlich geplante Sinfonie von Hans Rott aber mit hinüber ins 7. Konzert genommen. Die erklingt damit ein halbes Jahr später als vorgesehen, aber für den Rezensenten erweist sich die Verschiebung als Glücksfall, denn beim 2. Saisonkonzert im Herbst 2022 hatte er terminlich bedingt nicht anwesend sein können, und er hätte somit in die Röhre geschaut. Auch der Dirigent fühlt sich nach eigener Darstellung reich belohnt, denn es sei seine erste Begegnung mit diesem faszinierenden Werk, berichtet er am Ende des Einführungsvortrages am zweiten Konzertabend, und er freue sich sehr auf die Wiedergabe.

Bevor es aber dazu kommt, steht noch das Violinkonzert d-Moll op. 15 von Benjamin Britten auf dem Programm, ein relativ frühes Werk des Komponisten, das noch stark im spätromantischen Gestus wurzelt und noch wenig von der späteren, kargeren und teils abstrakteren Tonsprache ahnen läßt. Als Solistin ist Carolin Widmann (Foto) am Start, die dieses Violinkonzert 2023 schon mit etlichen Orchestern in ganz Europa aufgeführt hat und, davon geht man aus, in seine tiefsten Fasern eingedrungen ist.
Dass man damit richtig liegt, dafür reicht schon das Hören der ersten Minuten des Eröffnungssatzes Moderato con moto. García Calvo wählt einen eher distanziert wirkenden Aufbau, und der Violinistin kommt hier eine Art integrative Funktion zu, die sie auch gekonnt ausfüllt. Die Dramatisierung landet in relativ flottem Tempo, aber das bleibt nicht lange erhalten, und die größten Aha-Erlebnisse finden sich hier sowieso in den zurückhaltenden Passagen. Die betörenden klanglichen Perlen, die Widmann über entspannten Orchesterstreicherteppichen rollen läßt, lassen das Herz des empfindsamen Hörers jedenfalls ebenso schneller schlagen wie das anschließende tastende Forschen oder das geniale Satzfinale, in dem die Solovioline über der Becken- und Pauken-Figur aus dem Intro schwebt und schließlich ganz nach oben wegdriftet, Hochspannung inclusive.
Das anschließende Vivace atmet zunächst einen eher pseudomilitärischen Charakter, der sich aus der Werkgenese erklären läßt, allerdings zumindest an diesem Abend seinen Pseudo-Charakter bald verliert. Der Dirigent hält das Tempo hier vergleichsweise weit unten, was vor allem den sinistren Passagen (man höre das brillante Zusammenspiel von Solovioline und Piccoloflöte!) bei der Wirkungsentfaltung entscheidend hilft. Auch in der wiederkehrenden kriegerischen Dramatik schafft es der Dirigent, die Klangbalance jederzeit zu wahren, mit einer planmäßigen Ausnahme, nämlich dem die Solovioline überdeckenden Orchesterturm vor der Kadenz, aus dem Widmann also förmlich hervorbricht und dann eine wiederum planmäßig sehr zerrissene Kadenz spielt, die aber zugleich zeigt, wieviel Hochspannung man aus einer simplen Tonleiter holen kann, zumal die Violinistin am Ende oben im totalen Klangjenseits landet.
Das Orchesterthema der finalen Passacaglia kommt attacca und erdet den Hörer wieder – vielleicht ein wenig zu stark, denn so richtig spannend sind die ersten Passacaglia-Durchläufe nicht, von einigen Glanzmomenten abgesehen. Wenn das Orchester zirkusartige Offbeats unter die wild solierende Violinistin legt, dann nickt man schon anerkennend mit dem Kopf und versteht, wieso sich Britten und Schostakowitsch gegenseitig schätzten. Nach hinten heraus nimmt die Dichte guter Ideen aber immer weiter zu. Wenn Widmann da mit den choralartig agierenden Posaunen dialogisiert, ist das ähnlich spannend wie das minutenlange Kreisen um die Tonalität im Finale, von den Musikern exzellent umgesetzt, planmäßig ohne Lösung bleibend und wieder mal enorme Spannung aufbauend. Das leider nur in relativ übersichtlicher Kopfzahl anwesende Publikum spendet reichlich Applaus, auch einige Bravi sind zu hören, und die Solistin bedankt sich noch mit „Finale: Con brio“, dem letzten Satz der ersten der sechs Violinsonaten op. 27 von Eugene Ysaÿe, einem ziemlich originellen Werk, das barocke Anklänge verarbeitet, ohne anachronistisch zu wirken, und vor allem im Mittelteil auch wieder enorm viel Spannung aufbaut, wenngleich mit anderen Mitteln als bei Britten. Prima!

Die musikhistorische Bedeutung von Hans Rott ist schon fast anderthalb Jahrhunderte klar, aber die Untermauerung dieser Bedeutung durch eigene Kenntnis seiner Werke nimmt erst seit dem späten 20. Jahrhundert spürbar zu. Vor allem trifft das auf sein Hauptwerk zu, die 1. Sinfonie E-Dur, die eine ungewöhnliche Genese aufweist. Den 1. Satz hatte Rott, seinerzeit Aufbaustudent am Wiener Konservatorium und dort Kommilitone von Gustav Mahler, 1878 für einen universitären Wettbewerb eingereicht, bei dem alle Werke prämiert wurden, nur seines nicht. Nichtsdestotrotz baute der junge Komponist den Einsätzer zur vollen Sinfonie aus, bewarb sich mit dieser 1879 für ein staatliches Stipendium – und fiel abermals mit Pauken und Trompeten durch. Dieser Aspekt trug zweifellos zum Ausbruch einer Nervenkrankheit bei, und der hoffnungsvolle Komponist starb letztlich in geistiger Umnachtung mit nur 26 Jahren. Das Lob, das er von seinem Orgellehrer Anton Bruckner sowie später posthum von seinem einstigen Kommilitonen Mahler gezollt bekam, hielt seinen Namen im Gespräch – und sobald man die E-Dur-Sinfonie gehört hat, weiß man auch, warum (und ahnt, warum Guillermo García Calvo so begeistert von dem Werk war und ist): Hier liegt das faktische Bindeglied zwischen Bruckner und Mahler vor, der entscheidende Zwischenschritt, zudem in einer ungekünstelten Rohfassung, denn zu späteren Überarbeitungen oder Glättungen kam Rott nicht mehr. Mit der stilistischen Verortung, zu der noch latente Wagner-Einflüsse treten, ist auch klar, warum das Werk in Wien durchfallen mußte: Hier hatte sich noch nicht mal Bruckners Sinfonik durchgesetzt, und in der Kommission für das Staatsstipendium saß ein erklärter Gegner des Bruckner-Wagner-Zirkels, nämlich Johannes Brahms ... Letztlich führte aber auch Mahler die Sinfonie nicht auf, sie verschwand in den Archiven und kam erst im späten 20. Jahrhundert wieder ans Tageslicht und seitdem hier und da auch auf die Spielpläne einer Handvoll findiger Orchester, zu der seit dieser 2023er Chemnitzer Erstaufführung auch die Robert-Schumann-Philharmonie zählt.
Also hinein ins Geschehen! Die Alla-breve-Eröffnung bietet zunächst schöne Blechsoli über munteren Streichern, ehe das Hauptthema anhebt, aus heutiger Sicht ungefähr ein Mischungsverhältnis aus drei Vierteln Bruckner und einem Viertel Mahler aufweisend. Ein bezauberndes zweites Thema tritt hinzu, allerdings gekonnt ironisch gebrochen, wenn ein Zupfer der 1. Violinen „Schweinchen spielen“ darf. Die Tutti-Schichtungen weisen Rott als schon sehr fähigen Komponisten aus, die Hörner-Fuge hätte ideentechnisch auch aus Bruckners Orgelunterricht stammen können, und dann steigert sich das Geschehen zu großartigem choralartigem Bombast, viel Paukengedonner, aber auch jenseitiges Triangel-Geklirr inclusive. Nach dem Hören dieses für 1878 durchaus reichlich avantgardistischen Satzes ist erstmal klar, warum man damit am Wiener Konservatorium keinen Preis, sondern Hohngelächter ernten konnte.
„Sehr langsam“ steht über dem zweiten Satz, aber das, was da zu hören ist, hat mit den apokalyptischen Adagios der späten Bruckner-Sinfonien nichts gemein. Statt dessen entwickeln sich schnelle Streicherflächen, denen allerdings zumindest ein gewisser Ruhefaktor innewohnt. Auch hier findet man häufig choralartige Ansätze, wobei Rott schrittweise in ungewohnte, aber enorm spannende Klangwelten abgleitet, die er aus heutiger Sicht freilich viel zu schnell wieder verläßt, um einen hübschen, aber nicht weltbewegenden Satzschluß zu evozieren.
Sind die beiden ersten Sätze noch eher knapp bemessen, also jeder nur mit einer einstelligen Minutenzahl, so sprengt das Scherzo alle Dimensionen – und das Schöne ist, dass man Rott zu jeder neuen Wendung, zu jedem neuen Einfall applaudieren möchte und nie das Gefühl hat, hier sei etwas aufgebläht. Die Signaltrompeten wären auch 75 Jahre später in einem klassischen Sandalenfilm nicht deplaziert gewesen, der unwiderstehliche Groove gebärdet sich bisweilen auch elegant hüpfend, und hinten links auf den Rängen schafft es sogar jemand, im Takt zu husten. Damit das Ganze nicht zu simpel wirkt, baut Rott ein paar Passagen ein, die anmuten, als ob der Protagonist über seine eigenen Füße stolpert. Aber bald ändert sich sowieso alles: grollende Kontrabässe, dann liebliche Kammermusik, dann wüst-finstere Dramatik, dann flockige Folklore, dann wildes Tiefstreichergesäge – hier ist praktisch alles drin und zudem so geschickt arrangiert, dass man wie erwähnt nie auf die Idee des planlosen Eklektizismus kommt, zumindest aus heutiger Sicht nicht. Der dramatisch-intensive Schluß des Satzes atmet gar eine solche Gesamtschlußwirkung, dass einige bereits zu applaudieren beginnen.
Aber da kommt ja noch was, nämlich ein Finalsatz ähnlich epischer Ausdehnung, der tatsächlich „Sehr langsam“ beginnt. Vorsichtiges Pizzikato-Tasten mündet in eine versuchte Entwicklung aus der Düsternis, die einen irgendwie an die gespenstischen Töne mancher Russen des Mächtigen Häufleins erinnert, welche Rott freilich nicht gekannt haben dürfte. Der Komponist nimmt sich jedenfalls sehr viel Zeit für die Entwicklung, der Dirigent tut das auch und läßt dem Hörer Zeit zum Überlegen, woher diesem das Hörner-Thema diffus bekannt vorkommt. Den Stimmungswechsel hin zum „Belebt“-Hauptteil an diesem Abend könnte man in jedes Lehrbuch für Interpretation aufnehmen, den brillanten Aufbau hin zum großen Tutti hingegen in jedes Kompositionslehrbuch, wobei der folkige Touch aus dem Scherzo in der Folge nochmals auftaucht, gekoppelt hier mit einer Art Choral aus den Streichern. Lange Zeit dominiert dann unkompliziert, aber wirkungsvoll geschichteter Bombast, dem man Rotts Orgelunterricht bei Bruckner mehr als deutlich anhört – man wäre nicht verwundert, hätte man hier ein Orgelkonzert in Sinfonieform vor sich, und man ist nicht verwundert, dass es aktuell tatsächlich Menschen gibt, die an Orgeltranskriptionen dieser Sinfonie arbeiten. Der Dirigent manövriert die Robert-Schumann-Philharmonie sehr geschickt durch die von Rott aufgetürmten Welten, deren dynamische Bandbreite freilich zumindest unter den Soundbedingungen der Chemnitzer Stadthalle gar nicht so groß anmutet. Irgendwann landen wir dann wieder in verschlepptem Sandalenfilm-Bombast, auch Ruhepole drängen schnell wieder vorwärts, und minutenlange Orgien von Paukengedonner und Triangelgeklingel, die der Komponist im Falle einer Überarbeitung vermutlich noch ein wenig gestrafft hätte, lassen nicht vermuten, was dann kommt. Anstatt nämlich weiter mit Power auf das Ende zuzurollen, schalten die Musiker plötzlich ins Programm der edlen Eleganz, so dass der Schluß trotz des strahlenden E-Dur überraschend zurückhaltend anmutet, was der Hörer auch erstmal verdauen muß. Das geht freilich an diesem Abend schnell – Bravi und viel verdienten Applaus gibt es auch hier, und der Rezensent nimmt sich vor, das hochinteressante Werk noch einmal in einem Saal mit direkterem Sound zu hören, um die Wirkung auch unter markant anderen akustischen Bedingungen zu ergründen.


Roland Ludwig



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