Weltmeisterliche Friseure: Die Ringmasters beim A-Cappella-Festival Leipzig
Dass es nicht nur im Sport, sondern auch im musikalischen Bereich Wettbewerbe gibt, dürfte allgemein bekannt sein – auch beim A-Cappella-Festival in Leipzig findet üblicherweise ein solcher für Nachwuchsensembles dieses Genres statt, mußte im Gegensatz zum Festival selbst, das 2022 erfreulicherweise wieder real und live über die Bühne gehen konnte, aus strukturellen Gründen aber noch ein weiteres Mal aussetzen. Aber in diesen wie vielen anderen Fällen ist sprachlich von einem Wettbewerb die Rede. Es gibt allerdings tatsächlich auch solche, die regulär als Weltmeisterschaft betitelt werden, und das betrifft sowohl eher mit einem Augenzwinkern zu betrachtende Veranstaltungen wie die Weltmeisterschaften im Luftgitarrespielen als auch eher ernst gemeinte. Einer der letztgenannten ist die Weltmeisterschaft im Barbershop-Singen. Was für den Außenstehenden auch erstmal wie ein Scherzprojekt klingt, bedarf der Erläuterung, um seinen ernsthaften Charakter unter Beweis stellen zu können. Hinter dem Begriff Barbershop verbirgt sich eine spezielle Substilistik des A-Cappella-Gesangs, die auf Gesangspraktiken afroamerikanischer Friseure zurückgeht – daher der Name. Barbershop ist immer vierstimmig und befolgt satztechnisch ein genau definiertes Regelwerk, so dass eine Voraussetzung für einen objektiv nachprüfbaren Wettbewerb schon mal gegeben ist, wenngleich natürlich auch immer ein paar subjektive Kriterien mit hineinspielen, was es freilich auch im Sport gibt (man denke etwa an die Haltungsnoten beim Skispringen). Barbershop-Land Nr. 1 sind immer noch die USA, und so verwundert es nicht, dass sie auch das Gros der Weltmeister stellen. Anno 2012 aber gelang es den Ringmasters aus Schweden, in diese Phalanx einzubrechen und die WM-Trophäe aus dem US-amerikanischen Hoheitsgebiet zu entführen – das erste Mal, dass dies passierte, und bis heute gibt es außer ihnen nur noch einen weiteren nichtamerikanischen Barbershop-Weltmeister. Ebenjene Ringmasters treten nun beim 2022er Jahrgang des A-Cappella-Festivals in Leipzig auf, als erste Barbershop-Formation überhaupt, und das im 22. Festivaljahrgang, was beweist, dass man selbst in einer scheinbar so engen Nische wie dem A-Cappella-Gesang immer noch Neues entdecken und aufbieten kann. Der Set gehorcht allerdings nicht durchgängig der reinen Barbershop-Lehre, sondern bietet eine bunte Mixtur vom schwedischen Trinklied über (relativ zahlreiche) Musicalnummern bis hin zu Beatles-Songs, arrangementseitig zwar überwiegend den Barbershop-Prinzipien gehorchend, aber sie eben auch gelegentlich lustvoll durchbrechend, wenn’s drauf ankommt (oder eben gerade nicht). Dabei arbeitet das Quartett nicht mit Einzelmikrofonen, sondern wird als Ganzes von einer Mikrofonbatterie vorn in der Bühnenmitte abgenommen – sobald sich ein Sänger nach hinten entfernt, wird er also leiser. Das könnte man einerseits als Nachteil für die Bühnenbewegungsfreiheit ansehen, andererseits stellt die Formation aber unter Beweis, dass man diese Lage auch zum Vorteil als Stilmittel nutzen kann, und an diesem Abend bleibt nur die Frage, ob der Fakt, dass Bassist Didier Linder vor allem im zweiten Set oftmals physisch und dann eben auch akustisch relativ weit im Hintergrund steht, so Absicht war oder eben nicht. Dem Publikum sind etwaige Beschränkungen jedenfalls offensichtlich egal, und es tobt schon nach dem recht expressiven Opener „Be Our Guest“, einer Musicalnummer aus „Die Schöne und das Biest“. Tenor Jakob Stenberg stellt bereits hier seine Fähigkeit unter Beweis, einen extrem langen Ton, quasi eine Art Orgelpunkt, in der Hinführung zum Finale extrem lange auszuhalten, auf dessen passender Harmonie sich die anderen drei Sänger dann irgendwann mal einfinden, solange Stenberg noch Luft hat – und das hat er enorm lange. Rhythmusinstrumente imitiert das Quartett in der Regel durch Schnipsen, manchmal auch durch Klatschen, und die Tonangabe erfolgt nicht etwa per Stimmgabel, sondern mit einer kleinen Mundharmonika. In die Ansagen teilen sich die vier Sänger, Bariton Emanuel Roll und Tenor/Bandkopf Rasmus Krigström sprechen auch ein passables liebenswürdiges Deutsch, und generell ist gute Laune hier Trumpf. Damit aber auch der pädagogische Aspekt nicht zu kurz kommt, schieben die Ringmasters nach dem georgischen Lied „Khorumi“, das sie auch gestisch mit ruckartigen Kopfbewegungen ausgestaltet haben, einen „Lehrblock“ ein, in dem sie das vierstimmige Barbershop-Harmonieprinzip in Einzelstimmen zerlegen und dem Publikum anhand von „Come Fly With Me“ vorführen, wie der Satz in dieser speziellen Stilistik zustandekommt. Die Spiel- bzw. Singfreude der vier Schweden überträgt sich wie beschrieben schnell auf die Anwesenden, und der Set wird auch von Gute-Laune-Nummern dominiert, wobei Chef Krigström natürlich intelligent genug ist, um zu wissen, wann er Kontrapunkte setzen muß. Wilhelm Stenhammars „Sverige“ etwa war sogar mal Kandidat für die schwedische Nationalhymne, und hier wird natürlich eine andere Stimmung verlangt als beim Doo-Wop von „How Sweet It Is“. Das Frühlingslied „I Furuskogen“ besitzt ein überraschend schwerblütiges Finale, und das den ersten Set abschließende „I Got Life“ kommt erst nachdenklich daher, bevor es sich in lockere Lebensfreude auflöst. Von letztgenannter gibt es im zweiten Set dann einen Moment lang eine Überdosis, noch nicht im groovigen „Feeling Good“ und auch noch nicht im witzigen „Everybody Says Don’t“ mit seiner brillanten Hinführung zum Schlußton, wohl aber in der Mavericks-Nummer „Dream River“, wo die Schweden die Grenze zum musikalischen Overacting unvorteilhaft überschreiten, obwohl oder gerade weil sie erstaunlicherweise in dieser Nummer gar nicht so sehr viel zu gestalten haben. Hier droht der Set zu kippen, zumal „Bring Him Home“ (aus „Les Misérables“) und „Jazz Me Blues“ die erwähnte Grenze gleich nochmal überschreiten. Erst die sehr klangschöne Version von „What A Wonderful World“ setzt die Dinge wieder ins rechte Maß, obwohl auch hier die Schauspieleinlage überflüssig anmutet. Aber dann ist wieder alles in Ordnung, und mit dem sehr gefühlvollen „Smile“, einer Nummer aus der Feder von Charlie Chaplin, zeigen die Ringmasters, dass sie eigentlich genau wissen, wo die Kitschgrenze ist und wie man ihre Überquerung verhindert – und was ist das wieder für ein grandioser Schlußton! Das Publikum will natürlich mehr, die Schweden gehen auch gar nicht erst von der Bühne, sondern setzen die Zugabe gleich an – eine komödiantisch aufgepeppte Version von „All You Need Is Love“, anfangs trotz des coolen Marseillaise-Einwurfs eher unwitzig, aber schnell witzig werdend und das Publikum mit einbeziehend, sowohl singenderweise als auch mit der Aufforderung, dass man mitten im Song seinen linken Nachbarn umarmen solle, was angesichts der pandemiebedingt immer noch dominierenden Einzelplatzbelegung gar nicht so einfach ist. Die zweite Zugabe „Goodnight Sweetheart“ singen die Ringmasters dann ab der zweiten Strophe unverstärkt, indem sie von der Bühne gehen und sich links neben den Publikumsreihen aufstellen, womit ein überwiegend starkes Konzert sein Ende findet. Setlist: Be Our Guest I Get Around Baby Driver How Sweet It Is Sverige I Furuskogen Hej Dunkom Khorumi Come Fly With Me Hello My Baby 59th Street Bridge Song I Got Life -- Feeling Good Everybody Says Don’t Dream River Bring Him Home Jazz Me Blues What A Wonderful World Everything Teddy Bear Smile -- All You Need Is Love Goodnight Sweetheart Roland Ludwig |
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