Meergefühle: Dennis Russell Davies und das MDR-Sinfonieorchester mit maritimen Werken von Ethel Smyth und Ralph Vaughan William




Info
Künstler: MDR-Sinfonieorchester

Zeit: 08.05.2022

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Das Werk von Ethel Smyth ist von der seit geraumer Zeit durch die Lande rollenden Welle der Ausgrabung des Schaffens von Komponistinnen bisher nur peripher erfaßt worden, obwohl es mittlerweile eine Internationale Ethel-Smyth-Gesellschaft und am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold-Paderborn sogar eine Ethel-Smyth-Forschungsstelle gibt. Immerhin hat aber ihre Oper „The Wreckers“, uraufgeführt übrigens anno 1906 in Leipzig, wo die britische Komponistin im späten 19. Jahrhundert auch studiert hatte, aktuell gleich bei zwei mitteldeutschen Klangkörpern Aufmerksamkeit gefunden, zumindest was eine konzertante Wiedergabe von aus ihr stammender Musik angeht. Während man im Januar 2023 beim Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera das Vorspiel zum 2. Akt dieser Oper hören können wird (und dazu noch Smyths Konzert für Violine, Horn und Orchester sowie Mendelssohns Schottische Sinfonie), steht im 7. Konzert der Reihe „Zauber der Musik“ in Leipzig die Ouvertüre dieser Oper am Beginn des Abends, nach einführenden Worten von Dirigent Dennis Russell Davies zum Programm, das einen Tag zuvor bereits in Suhl gespielt worden war.

In der Ouvertüre macht Smyth von Beginn an keine Gefangenen (wie die Strandräuber, um die sich die Handlung dreht) und läßt das riesig besetzte Orchester in althergebrachter Ouvertürenstruktur alle Hauptthemen durchexerzieren. Das führt zu etlichen großen Ausbrüchen mit viel Paukengedonner, aber ebenso zu gekonnter Lieblichkeit oder etwas mystifiziert glitzernder Friedlichkeit, und einen großen Choral bindet die Komponistin mit sicherer Hand für Dramatikgestaltung ein. Der sehr bewegungsintensiv dirigierende Davies und das MDR-Sinfonieorchester haben keine Mühe, den zahlreichen Wendungen zu folgen, und geben ihr Bestes, um dem Geschehen einen flüssigen und logisch anmutenden Charakter zu verleihen. Ein feister Bombastteil mit Orgel täuscht das Finale an, aber gegen jedwede Erwartungen hängt die Komponistin dort einen lockeren Tanzpart an, bevor doch noch ein Bombastfinale folgt. Hier und da sieht man Wagner um die Ecke lugen, aber vielleicht ist dieser Eindruck auch nur dem maritimen Thema der Oper geschuldet – das Grundproblem aber bleibt ein anderes: Eingängige Hits, die sich schon nach dem ersten Hören im Ohr festsetzen, bleiben bei der Reduzierung auf die Ouvertüre aus (bei mehrfachem Hören in der ganzen Oper könnte das anders aussehen), so dass eine Prognose, ob sich eine Konzertfassung eigenständig durchsetzen wird, schwerfällt. Gut anhörbar, zumal wenn gut gespielt wie an diesem Abend, ist das Stück freilich allemal und erntet somit relativ viel Applaus.

Der Hauptteil des Konzertes gehört einem anderen Werk mit maritimem Background: A Sea Symphony von Ralph Vaughan Williams, erste der insgesamt neun Sinfonien des britischen Komponisten und zugleich die, der man im heutigen Konzertleben noch am ehesten begegnet, trotz ihres großen logistischen Aufwandes, vielleicht aber auch gerade deshalb. Es handelt sich um eine Chorsinfonie, in welcher der Chor nicht nur punktuell eingesetzt wird, sondern fast durchgängig aktiv ist, zusammen mit zwei Gesangssolisten. Da der MDR außer über ein Sinfonieorchester auch noch über einen groß besetzten (und exzellenten Ruf genießenden) Chor verfügt, stellt die Sea Symphony also eine dankbare Aufgabe für ihn dar: Howard Arman hatte vor anderthalb Jahrzehnten, am 4.2.2007, eine Aufführung angesetzt, die dann auch auf Tonträger erschien, und nun widmet sich auch Dennis Russell Davies dem Werk, wobei Harry Bradford für die Einstudierung des auf der Orgelempore stehenden Chors verantwortlich zeichnet.
Nur fällt es in der Konzertsituation lange Zeit schwer, die Qualitäten des Chors akustisch nachzuvollziehen. Nach der strahlenden Trompetenfanfare, die den ersten Satz „A Song for all Seas, all Ships“, ein Moderato maestoso, eröffnet, müssen die Sänger nämlich gleich ins große bombastische Klangtoben springen und sind dort nur als Masse wahrnehmbar, aber nicht mit all den Details, die man eigentlich hören müßte. Der Rezensent sitzt rechts hinten oben im Parkett – ein Platz, den er sonst sehr selten innehat und seit den letzten Schallelementumbauten bei noch gar keiner chorsinfonischen Aufführung innehatte, so dass er noch keine Vergleichsmöglichkeiten hat und auch nicht aus eigenem Erleben sagen kann, ob die akustische Lage an anderen Plätzen im weiten Rund möglicherweise eine andere war. An etwaige Textverständlichkeit ist beim Chor jedenfalls kaum zu denken (auch nicht per Mitlesen im Programmheft), wobei sich das Ohr aber im Verlaufe der weit mehr als einstündigen Aufführung zumindest ansatzweise trainiert, wann es wo genauer lauschen muß – oder Davies hat zwischenzeitlich ein wenig an der Gesamtbalance geschraubt. Anfangs jedenfalls verschwindet der Chor im Paukengedonner völlig, hat aber auch dann, wenn Blech und Schlagwerk schweigen, wenig Chancen gegen das Orchester. Dessen Gestaltung wiederum sitzt von Anfang an wie die sprichwörtliche Eins: Was Davies und seine Instrumentalisten beispielsweise in der Wiederholung von „Behold, the sea itself“ auf die Bühne bringen, genügt auch verwöhnten Ansprüchen.
Spannend bleibt die Frage, wie sich die beiden Solosänger in dieser Umgebung schlagen. Bariton Christopher Maltman greift als erster ins Geschehen ein, und zwar mit einer Passage, wo er eine große Evangelistenstimme über einem zurückhaltenden Orchester zu gestalten hat. Das macht er prima, und als dann der Chor hinzutritt und bisweilen sogar a cappella zu arbeiten hat, da wird auch dessen Klasse erstmals so richtig klar: Noch sind nach zweijähriger Pandemiesituation nicht alle Automatismen bei allen Feinheiten schon wieder aktiviert, aber viel fehlt nicht mehr, und die naturalistische Gestaltung, die Texter Walt Whitman (die Texte entstammen seiner berühmten Sammlung „Leaves of Grass“ [oben abgebildet ist das Cover einer frühen Ausgabe aus dem Jahre 1860]) und in seinem Zuge auch Komponist Ralph Vaughan Williams fordert, hat Bradford dem Chor offenkundig gut vermittelt. Sopranistin Eleanor Lyons hat zunächst ebenfalls einen eher verkündigenden Tonfall anzuschlagen, kann sich in gemeinsamen Passagen mit dem Chor aber nur in den Höhenlagen akustisch durchsetzen, während sie weiter unten zugedeckt wird. Dafür überzeugt der Chor mit meisterlicher Marschroute durch die kunstvollen Verschränkungen vor dem letzten Bariton-Einsatz dieses Eröffnungssatzes, und was die Hörner da treiben, kommt akustisch völlig aus dem Jenseits. Nur das Bombastbalanceproblem bleibt bis zum Satzschluß ungelöst, so dass man in dessen großem Finale alle Sänger nur diffus hört. Dafür entschädigt der bezaubernde ruhige Satzschluß mit einer betörend singenden Lyons und großer Spannung.
„On the Beach at Night, alone“ ist der zweite Satz, ein Largo sostenuto, übertitelt. Davies und das MDR-Sinfonieorchester zaubern eine wunderbare Stimmung in den Saal, das Meer ist ruhig und wird akustisch behutsam geformt, und Maltman paßt sich mit einer sehr gefühlvollen Darbietung sowohl solistisch als auch im Dialog mit den Chor-Altistinnen diesem Bild perfekt ein, später ab „All nations, all identities“ ähnlich kongenial mit dem ganzen Chor, den Vaughan Williams hier nach klassischen Chorsatzprinzipien arbeiten läßt. Davies und seine Instrumentalisten wollen dem nicht nachstehen – und die Tiefstreicherpizzikati derart flott, aber unaufgeregt an den Strand zu bekommen muß man auch erstmal hinkriegen. Der Bombastausbruch bleibt kurz und pendelt gekonnt aus, und mit ihrem hochspannenden Finale verdienen sich die Tiefstreicher gleich noch eine lobende Erwähnung.
Das Scherzo, ein Allegro brillante, nennt sich „The Waves“, und die kommen dann doch deutlich höher angerauscht als in der Nacht zuvor. Der Signaltrompete folgen also Hochgeschwindigkeit und etliche Dramatik, was die Textverständlichkeit des Chors wieder gegen Null führt. Dafür entschädigen die sehr gekonnt auf die Bühne gebrachten Wellenbewegungen über einem weitgehend konstanten Grundrhythmus, und nach drei großen Paukenausbrüchen spricht der Chor letztlich das Schlußwort.
In „The Explorers“, einem Grave e molto adagio, erzeugt das Orchester zunächst eine tiefendominierte weite Landschaft, über welcher der Chor gekonnt schwebt, ehe er vom Klangvolumen wieder eingefangen wird. Was er a cappella in „Now first it seems“ fabriziert, ist aber allemal für eine meterdicke Gänsehaut gut, die sich durch den halben Damenchor, der sich ab „Wherefore unsatisfied soul?“ nach ganz links hinten begibt und quasi die Engel vom Himmel herabsingt, gar noch verstärkt. Da steht die Zeit förmlich still, aber es geht natürlich trotzdem weiter, mit einem bombastisch heranrauschenden Dichter als Sohn Gottes, aber auch mit bezaubernder Kammermusik auf „O soul thou pleasest me“, angeführt von Konzertmeisterin Marina Grauman (als Gast vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin dabei), wozu sich die Gesangssolisten gesellen, deren direkte Balance in vielen Lagen prima paßt, aber in den Soprantiefen nach wie vor zu Überdeckungsgefahr durch den Bariton führt. Im weiteren Verlauf treibt Vaughan Williams die naturalistische Gestaltung förmlich auf die Spitze, und Davies folgt ihm gern dorthin, mit überwältigender Bombastentwicklung ab „O thou transcendent“ (trotz wieder mal verdeckten Chors), mit berückendem Hornübergang in den A-Cappella-Chor „Greater than stars or suns“, mit Lyons als Kommandogeberin zum Lossegeln, aber einer mehrfachen Neuansetzung, als ob sich die Lossegelnden nicht von den Zurückbleibenden losreißen können, und mit einem so schlußwirksamen Bombast samt anschließender Generalpause, dass ein Begeisterter bereits zu applaudieren beginnt, obwohl ein letzter Neuaufbau noch folgt, der ein Entschwinden am Horizont darstellt – die Tiefstreicher bewegen sich ins klangliche Nichts, und selbst ein zur völligen Unzeit klingelndes Handy schafft es nicht, die entrückte Spannung zu stören. Dennis Russell Davies und seine Musiker ernten viel Applaus, garniert mit zahlreichen Bravi – und wer auf www.mdr-konzerte.de den Sendemitschnitt nachhört, kann auch prüfen, ob die Chorbalance unter Heimkinobedingungen besser ausgefallen ist als im Konzertsaal, wo sie das einzige große Manko einer ansonsten starken Aufführung darstellte. (Das Ergebnis sei hier schon vorab verraten: Ja, sie ist besser ausgefallen, und die erwähnten Störgeräusche wurden natürlich auch herausgefiltert.)


Roland Ludwig



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