Posaunisten mit Sonnenbrillen: Eastern Standard Time und Gimpelakwa bringen den Jenaer Kulturbahnhof zum Tanzen
Ein Nonett auf die Bühne des Jenaer Kulturbahnhofs zu bringen erfordert eine gewisse Flexibilität seitens der Musiker, was die Größe oder auch Kleinheit des Bewegungsraumes angeht: Gimpelakwa spielen nach eigener Definition auch noch einen Stil namens Speed-Ska, aber Platz zum wilden Über-die-Bühne-Fegen gibt es hier definitiv nicht, und so muß sich die Band darauf beschränken, den Taktgeber für das Publikum zu mimen, das sich dementsprechend auch nicht so sehr lange bitten läßt, bald nur noch eine minimale höfliche Leerzone vor der Bühne läßt (nicht zuletzt vor dem Posaunisten, von dessen Zug man ja nicht unbedingt getroffen werden möchte) und fleißig das Tanzbein schwingt. Gimpelakwa zählen allerdings zu den Bands, bei denen sich darüber hinaus auch ein genaueres Hinhören bei den Lyrics lohnt, machen Nummern wie „Hymnus auf die Bankiers“ oder „An die Unpolitischen“ doch schnell klar, dass der sarkastische Hintergrund einen Zusatzreiz zum rein musikalischen Konzept liefert, das vom klassischen Ska aus mannigfache Ausflüge in verwandte Genres unternimmt, so dass auch ein Titel wie „Yiddishska“ keinen Zufall darstellt, während genauen Kennern des Schaffens von Johannes Brahms, zu denen der Rezensent nicht zählt (der vor allem die Sinfonien dieses Herrn tendenziell eher langweilig findet und sich daher klar auf die Seite der Brucknerianer schlägt), vorbehalten bleiben muß, in welcher Weise dieses in „Brahmskovskaya“ verarbeitet wird. Vom Nonett arbeiten vier Mitglieder bläserisch – ein sonnenbebrillter Posaunist, ein Trompeter, eine Saxerin und ein Saxer –, eine Hammondorgel bringt Klangfarben ein, die man im Ska sonst weniger häufig findet, der farbige Bassist mit langen Rastas, bei dem der Rezensent noch überlegt, in welcher anderen Band er ihn schon mal gesehen zu haben glaubt, beschränkt sich keineswegs nur aufs Rhythmushalten, und der Sänger steuert gelegentlich auch noch eine Mandoline oder ein Akkordeon bei. Sein Gesang selbst ist leicht angerauht, halbhoch und oft in einen sprechenden Duktus verfallend, gern auch in höheren Geschwindigkeiten, was das Heraushören der Texte bisweilen nicht ganz einfach macht. Außerdem entpuppt sich der Mann als gekonnter Entertainer, und man stellt erstaunt fest, was eine Schmidt-Mütze doch so an Möglichkeiten zum Showeinbezug eröffnet. Eine solche Besetzung abzumischen markiert eine gewisse Herausforderung für jeden Tontechniker, und auch wenn diesmal nicht die Stammkraft Thomas Fischer anwesend ist, so liefert doch auch der Vertreter einen achtbaren Job ab: Die Bläser präsentieren sich gut integriert und tröten nicht alles nieder, auch den Baß hört man recht deutlich, nur die Hammond geht bisweilen ein wenig unter, und das Gesamtbild ist klar, aber einen Tick zu laut. Das senkt die Partystimmung freilich nicht, und so fragt der Sänger nach einem einstündigen Set aus dreizehn Nummern, der Zugabeforderungen erzeugt, ob man denn noch Zeit dafür habe. Auf ein bejahendes Signal kommen noch zwei Zugabesongs, attacca aneinandergehängt und mit einigen fast progressiv anmutenden Wechseln versehen, so dass Gimpelakwa letztlich etwa 70 Minuten spielen, und das als Vorband. Setlist Gimpelakwa: Hymnus auf die Bankiers Interskationale Abgesang Petruschka Yiddishska Abseits Summertine Toccata Riddim An die Unpolitischen Brahmskovskaya Argesong Yellow Foggy Ska Reise nach Tscheljabinsk -- Träumer Efeu Die Umbaupause zieht sich arg hin – an der Verbindung zur Hammondorgel funktioniert irgend etwas nicht so, wie es eigentlich sollte, und bis das Problem gelöst werden kann, geht viel Zeit ins Land, so dass Eastern Standard Time erst kurz vor 23.30 Uhr loslegen können. Die Tanzbeine des Publikums wieder in Bewegung zu versetzen gelingt dem Septett allerdings quasi im Handumdrehen. „Hot Jamaican Jazz and soulful Reggae for your dancing pleasure“ verspricht die Ankündigung, und sie verspricht nicht zuviel, eher zuwenig, denn da ist ja auch noch folgende Stilbeschreibung: „From their initial days as a Be Bop influenced Ska-Jazz supergroup, the band has matured over more than a decade, adding Rocksteady, Reggae, Dub, Soul, and even Spy Jazz into their repertoire.“ Alles klar? Jedenfalls machen die sieben Musiker aus Washington, DC von Anfang an mächtig Druck, variieren Tempi und Rhythmen aber immer wieder geschickt, dabei freilich nicht so progressiv agierend, dass der Tanzende etwa ständig über seine eigenen Füße stolpern würde. Wer sich in der Umbaupause vielleicht irgendwann frustriert die Meinung gebildet hatte, es müsse doch auch ohne das Tasteninstrument gehen, wenn das Problem nicht zeitnah behoben werden könnte, der sieht sich nunmehr belehrt, dass Bill Dempsey tatsächlich eine sehr markante Rolle im Grundsound des Septetts spielt, eine deutlich markantere als beispielsweise Gitarrist Zachary Cutler, der nur gelegentlich hervortritt, allerdings dann auch seine Unverzichtbarkeit schnell deutlich macht. Dempsey ist zudem auch am Gesang beteiligt, ebenso wie die Rhythmusgruppe aus Bassist Reid Attaway und dem letzten verbliebenen Gründungsmitglied aus den Mittneunzigern, Drummer James McDonald, der zwar optisch ein ganz klein wenig an das virtuell halbierte kleinere Mitglied der Wildecker Herzbuben erinnert, aber bedarfsweise durchaus auch einen klassischen Four-on-the-floor-Beat in die Baßdrumarbeit legen kann. Gegenüber Gimpelakwa reduzieren Eastern Standard Time die Zahl der Bläser auf die Hälfte, nämlich einen Saxer in Gestalt von Morgan Russell und einen Posaunisten in Gestalt von Alex Powers, der, wenn er nicht in sein Instrument bläst, auch noch am Gesang beteiligt ist und genau wie sein Gimpelakwa-Kollege eine Sonnenbrille trägt, schrägerweise jeweils als einziges Bandmitglied. Mittelpunkt der Show ist aber der Siebente im Bunde: I-Peace Unikue, ein großgewachsener Farbiger, der neben seinem Leadgesang gelegentlich auch noch zusätzliche perkussive Elemente einwirft, sich als Frontmann erster Klasse entpuppt, das Publikum im Nu um den Finger wickelt (auch Basser und Drummer tragen gelegentlich zu den Ansagen bei und verbreiten ähnlich viel Enthusiasmus wie in der Musik) und eine äußerst vielseitige Stimme besitzt, mit der er all den verschiedenen Herausforderungen begegnen kann – bedarfsweise holt er sogar einen Baß aus seinem Körper, auf den auch Gunther Emmerlich stolz wäre, und das, obwohl der EST-Fronter nur den halben Resonanzraum des sächsischen Bierliebhabers zur Verfügung hat. Da der Soundmann wie schon bei Gimpelakwa ein recht ausgewogenes Klangbild herzaubert, kann man auch die diversen Feinheiten gut nachvollziehen, und einzig die Gesamtlautstärke erreicht wieder einen etwas zu hohen Wert. Spielfreude und positive Stimmung geben sich im Set die Hand, und die Eigenkompositionen fügen sich bestens in den Reigen der Standards ein: Eastern Standard Time haben ein neues Album namens Time For Change draußen, und dieses stellt selbstverständlich den einen oder anderen Beitrag zur Setlist, darunter den Titeltrack selbst. Ansonsten spielen die sieben Musiker ... und spielen ... und spielen ... und spielen ... und spielen immer noch, als die Geisterstunde schon wieder vorbei ist. Bei dem einen oder anderen Anwesenden, so auch beim Rezensenten, schwindet irgendwann die Tanzbeinkondition und erzwingt ein Zurückweichen in die hinteren Reihen, aber vorn gibt das Jungvolk bewegungstechnisch nach wie vor alles, die Band wird verdientermaßen abgefeiert, und der Energietransport klappt in die eine wie in die andere Richtung. Drei Zugaben erklatscht sich das Jenaer Publikum noch, dann ist kurz vor 1.30 Uhr das Ende eines hochinteressanten, wenngleich durchaus anstrengenden Konzertes erreicht. Wer sich ein kleines mediales Bild machen will – unter folgendem Link gibt es einen halbminütigen Appetizer: www.facebook.com/ESTmusic/videos/359717047992990/ Setlist Eastern Standard Time: Cloudburst Call Me Crazy Segment Step Ready Time For Change A Thing Of The Past Totem Pole Miles And Miles Sit Down Servant True Confession Lovely In Mad Sugar Shack Tick Tock Hot Milk A Change Is Gonna Come Left For Dead The Dragon Hayati Mad Dog Quizás, Quizás, Quizás Barbados All Day All Night Eye Of The Storm Sei Pazzo -- Return Of The Prophet Some Day Some Way It’s Alright Roland Ludwig |
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