John Neumeier (Hamburg Ballet)
Nijinsky (DVD)
NÄHERUNGSWEISE
„Versuch einer Annäherung“, so heißt es bei ARTE gerne im Untertitel und die Formulierung passt trefflich auf John Neumeiers Ballett Nijinsky. Neumeier hat sich schon früh mit dieser schillernden Figur des modernen Balletts befasst: Bereits 1979 choreographierte er ein kleines Stück mit dem Titel „Vaslaw“. Die Begeisterung für den Menschen und Künstler Vaslav Nijinsky hat ihn seither nicht mehr losgelassen, ja, Neumeier kann mit Fug und Recht als der Nijinsky-Experte schlechthin gelten. Was lag also näher, als dass er ihm ein abendfüllendes Stück widmete? Nijinsky Leben gibt dafür allemal genug Stoff her: Sein früher Ruhm, der ihm dank seiner nicht selten überirdisch genannten Kunst zuteil wurde, seine unverhohlen queere Seite, sein unbedingter Wille zur Perfektion, aber auch zur Modernität bis hin zur tänzerischen Revolution. Dazu die nicht selten tragischen Aspekte seines Privatlebens in Gestalt seiner langjährigen, problematischen Beziehung mit dem Impressario Diaghilew, der Nijinskys Weltkarriere beförderte, seiner überstürzten Hochzeit mit der ungarischen Tänzerin Romola, seiner sich immer deutlicher abzeichnenden schizophrenen Erkrankung, die ihn nach rund 10 Jahren auf der Bühne schließlich ab 1919 für Jahrzehnte in Kliniken und Sanatorien führte.
An diesem Umschlagpunkt lässt Neumeier dann auch sein schon im Jahre 2000 uraufgeführtes Ballett beginnen, das bewusst keine stringente Nacherzählung der Biographie ist, sondern versucht, das menschliche und künstlerische Phänomen Nijinsky nachschöpferisch möglichst weitreichend zu erfassen. Den Einstieg bildet dazu Nijinsky letzter Auftritt als Tänzer im Jahre 1919, der sich im Rahmen einer Aufführung in einem Schweizer Hotel vollzog und den er als „Hochzeit mit Gott“ ankündigte. Kraftvoll, präzise, mit geheimnisvoll kühler Aura, bisweilen athletisch schroff und entschlossen tanzt Alexandre Riabko den Nijinsky auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Innerhalb dieser Vorführung ziehen sodann im ersten Akt wichtige Stationen aus dem künstlerischen Schaffen und dem Privatleben des Tänzers an Zuschauer vorüber, gleichsam so, als würde Nijinsky selbst sein Leben bis dahin Revue passieren lassen: Es treten andere Tänzer als sein Alter Ego in jenen Rollen auf, die Nijinskys Ruhm begründeten und die das Tor zum modernen Tanztheater aufstießen (Der Goldene Sklave, Der Faun, Der Harlekin, Le Spectre de la rose). Dazwischen Szenen aus der Biographie, wie die erste Begegnung mit Diaghilew oder Romola, Schlaglichter aus Tourneereisen, die Hochzeit, der Bruch mit Diaghilew usw.
Jener erste Teil ist als opulenter Bilderbogen spannend anzuschauen, nicht zuletzt deshalb, weil Neumeier sich an historische Kostüme und Bühnenbilder anlehnt und damit das Zeitkolorit geschickt wiederbelebt, ohne sich im Versuch einer Rekonstruktion zu verlieren. Manches davon mutet vielleicht nach heutigem Maßstab eher als „camp“ an, doch dem Auge wird einiges geboten und die tänzerischen Ausdrucksmittel sind intensiv und stimmig. Die Darstellung bleibt aber notwendig episodenhaft und lässt einem die Figur des Nijinsky kaum wirklich nahe kommen.
Anders im zweiten Teil, der stärker auf Nijinsyks inneres Erleben abhebt. Neumeier wählt hier als Anknüpfungspunkt zum einen die Familienkonstellation, wobei er Nijinskys Verbundenheit zu dessen seit Kindheit an einer geistigen Erkrankung leidendem Bruder in den Mittelpunkt stellt, zum anderen aber die äußeren Kämpfe, die Nijinsky miterleben musste (1. Weltkrieg, Oktoberrevolution, 2. Weltkrieg) und die als Pendant zu seinen inneren Kämpfen, seiner Zerrissenheit gedeutet werden – ganz so, dass sich des Künstlers Einschätzung bewahrheitet, nicht er sei krank, sondern die Welt um ihn herum, die für seine hohe Kunst, sein Ringen um die Überwindung aller Geschlechterrollen, aller physischen und künstlerischen Grenzen, sein Streben nach Transzendenz letztlich keinen Raum mehr bietet, sondern in die Konvention von Krieg, Vernichtung, Macht und traditionell verstandener Männlichkeit zurückfällt. Hier emanzipiert sich Neumeier von der bloßen Bebilderung, kreiert eine eigenständige Innenwelt, die über weite Strecken düster, nicht selten auch rätselhaft bleibt. Bildete für den ersten Akt noch Rimskij-Korsakows „Scheherazade“ das musikalische Korsett (neben Stücken von Chopin und Schumann), greift Neumeier im zweiten Akt auf Schostakowitschs wuchtige, gewaltige bis gewalttätige 11. Sinfonie ("Das Jahr 1905") zurück. Diese entstand zwar erst 1957 und damit nach Nijinskys Tod im Jahre 1950, passt aber perfekt und ermöglicht den Tänzern ein breites Ausdrucksspektrum. Soghaft wird der Zuschauer in diesen Tanz am Abgrund hineingezogen, so dass am Ende ein wirkliches großes, intensives Ballettereignis entsteht. Leichte Kost ist das keineswegs. Der Tänzer Alexandre Riabko geht dabei in der Titelrolle an die Grenze der physischen wie psychischen Selbstentäußerung.
Die schwierige Aufgabe, dieses Ereignis einzufangen und abzubilden, haben Video Director Thomas Grimm und sein Team mit hohem technischen Aufwand bestens gemeistert. Ton- und Bildqualität sind superb, vor allem aber gelingt der sensible, sinnhafte Wechsel von Ausschnitt, Nahaufnahme und Totale durchgehend perfekt. Die Kameraführung und Bildregie passen sich den Bewegungsabläufen so geschmeidig an, als wären sie Teil des Ensembles, bisweilen mit sehr raschen, dramaturgisch angepassten Schnitten. Auch das ist große Kunst!
Sven Kerkhoff
Trackliste |
DVD I
Live-Mitschnitt aus der Hamburger Staatsoper 2017
135:00
DVD II - Bonus
Interview mit John Neumeier
18:00
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Besetzung |
Alexandre Riabko: Vaslav Nijinsky
Hamburg Ballet John Neumeier
John Neumeier: Choreographie, Licht, Bühnenbild, Kostüme
Thomas Grimm: Video Director
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